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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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bisschen »überfordert« sei. Er war nicht daran gewöhnt, mit vielen Toten umzugehen, vor allem nicht mit in Stücken gerissenen.
    Der Vorarbeiter empfing ihn an der Tür seines Bauwagens. Er entschuldigte sich, dass er den Doktor belästigte, und verwies auf dessen überlegene Anatomiekenntnisse. »Meine Männer können nicht wissen, was was ist«, sagte er und wandte den Blick von dem hinter ihm liegenden Hof ab. »Aber einige von ihnen wären bereit, Ihnen eine helfende Hand zu reichen.« Er zuckte ein wenig zusammen und fügte schnell hinzu. »Das war nicht sonderlich passend ausgedrückt, oder?«
    Dafydd musste über das Wortspiel unwillkürlich lächeln. Die ganze Situation hatte etwas Surreales, sodass er sie nicht ganz ernst nehmen konnte. Noch hatte er nichts gesehen und wusste nicht so recht, womit er anfangen sollte.
    »Ich hol Ihnen mal ein paar feste Plastiksäcke«, schlug der Vorarbeiter hilfsbereit vor und verschwand in seinem Büro. Ein paar Männer in orangenen Overalls liefen schweigend herum und warteten. »Oh … und das hier.« Der Vorarbeiter war zurückgekehrt und hielt Dafydd ein gelbes Plastikbündel hin. »Vielleicht sollten Sie lieber Handschuhe tragen.«
    »Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte Dafydd einen dunkelhäutigen Teenager, der ihn begleitete und ihm einen orangenen Plastiksack hinhielt, in den Dafydd die Teile legen konnte.
    »Er hat einen Reifen vom Schlepper dort aufgepumpt«, erklärte der Junge und zeigte auf ein wuchtiges Fahrzeug, dessen Räder zweieinhalb Meter hoch waren. »Der Reifen ist einfach geplatzt, regelrecht explodiert.« Der Junge warf die Arme hoch und ahmte das Geräusch der Explosion nach, wobei eine Wolke feiner Speicheltropfen aus seinem Mund stob.
    »Nein«, schaltete sich ein älterer Ureinwohner ein. »Du hast das ganz falsch verstanden. Er hat nämlich versucht, die Mutter mit einem Lötkolben zu erhitzen, um sie zu lockern. Es war die Hitze, die den Reifen knallen ließ.«
    Der Körper des Mannes war durch die Explosion zerrissen worden. Sie hatte Fleisch- und Knochenstücke sowie Haarbüschel fast fünfzig Meter weit weggeschleudert. Schwarze Reifenfetzen bedeckten alles wie der Auswurf geschmolzener Lava. Größere Körperteile lagen herum, funkelten rot in der Sonne und hoben sich von der Schwärze des Hofes mit seinen öligen Maschinen ab.
    Ein Teil des Schädels lag leer und staubbedeckt da wie die Scherbe eines uralten Gefäßes. Dafydd hob es auf und begutachtete es kurz. Dieses schüsselförmige Knochenstück hatte das Gehirn eines Mannes in seinem Alter enthalten. Vor einer Stunde noch hatte es gedacht und gefühlt. Der Mann hatte dem Ende seiner Schicht entgegengesehen und sich darauf gefreut, nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern zurückzukehren. Dafydd ließ das Teil in den Plastiksack fallen, den der Heranwachsende ihm höchst eifrig entgegenhielt. Ihm war schwindelig von der Hitze, und durch den Geruch wurde ihm übel. Seine Handschuhe waren blutverschmiert und seine Achselhöhlen schweißnass. Von der Stirn rannen ihm Schweißperlen in die Augen.
    Der Junge zeigte keinerlei Ekel. Vielmehr starrte er fasziniert auf die verschiedenen Organe und Gliedmaßen, die sie in dem Sack sammelten. Er stellte den bis zum Bersten gefüllten Sack auf den Boden und fitzte los, um einen neuen zu holen.
    Die anderen zur Unterstützung abgestellten Männer blieben im Hintergrund und stocherten mit den Spitzen ihrer stahlverstärkten Arbeitsstiefel im Dreck herum. Selbst diesen abgebrühten Menschen war es unmöglich, die Fleischteile ihres toten Kollegen anzufassen. Der Fahrer, der Dafydd zum Gelände gebracht hatte, war dazu ebenfalls nicht bereit. Er hätte seinen Teil zur Erledigung der Aufgabe beitragen können, aber er hantierte lieber neben dem Krankenwagen an einer zusammenklappbaren Trage herum und tat so, als müsse sie repariert werden.
    Der Vorarbeiter hatte die Frau des tödlich Verunglückten angerufen, und nun kam er heraus, um Dafydd mitzuteilen, sie warte im Krankenhaus darauf, dass ihr Mann dorthin gebracht wurde, damit sie ihn identifizieren konnte. Offenbar wollte sie das so schnell wie möglich erledigen. Der Vorarbeiter zuckte die Schultern und spreizte seine schmutzigen Finger zu einer hilflosen Geste.
    »Ich kann das hier nicht schneller erledigen, als ich es bereits tue«, fuhr Dafydd ihn an. »Vielleicht helfen Sie mir freundlicherweise.«
    Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf, und seine wettergebräunten

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