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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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dass dieser schäbig war, als gehöre er einem Obdachlosen. Er kehrte das Innere der Taschen nach außen und verfluchte sich selbst. Etwas hatte er in Kanada zurückgelassen. Er vermisste jemanden. Angst quälte ihn, weil er sie zurückgelassen hatte. Sie war sanft und schön und so unendlich weit weg, dass er nie wieder zu ihr konnte.
    Sein Blick fiel auf die große Frau neben ihm. Sie hieß Isabel und trug nicht jenen anderen, fremden Namen. Mit aller Kraft biss er die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Dann drehte er sich auf die Seite und zog sich das dünne Laken fest über das Gesicht. Es klopfte an der Tür, klopfte und klopfte. Sheila kam herein und bat ihn, eine Abtreibung bei ihr vorzunehmen … Jetzt, sofort.
    Er schüttelte den Kopf; langsam, damit es nicht weh tat. Eine Abtreibung? Hier?
    »Mir geht es nicht allzu gut«, sagte er und versuchte, überzeugend zu klingen. »Warum fliegst du nicht nach Yellowknife? In ein oder zwei Tagen bist du wieder zurück. Niemand wird etwas merken.«
    »Ach, hör auf … Solch ein Aufstand für solch eine Kleinigkeit? Außerdem weiß mein Freund nichts von der Schwangerschaft. Er könnte misstrauisch werden, wenn ich verreisen würde.« Sie setzte sich aufs Bett. Sie trug keine Uniform, sondern einen sehr kurzen grünen Wildlederrock, und obwohl er nicht hinzusehen versuchte, erhaschte er einen Blick auf das rotlockige Schamhaar zwischen ihren Oberschenkeln.
    »Was meinst du mit: Er würde misstrauisch werden?«, fragte er in dem Wissen, dass die Sache etwas mit ihm zu tun hatte.
    Nach einem kurzen Schweigen antwortete sie: »Weißt du, das Baby …« Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf seine. »Das Baby ist nicht von ihm.«
    »Tatsächlich?« Dafydd riss seine Hand weg und steckte sie unter die Decken.
    Sie lehnte sich zurück und sah ihn nachdenklich an. »Du kennst ihn nicht, oder? Lass es uns so ausdrücken: Wenn er es herausfinden würde … dann würde er Hackfleisch aus jedem Mann machen, den ich kenne. Auch aus dir. Aus dir auf jeden Fall. Du weißt warum, oder? Erinnerst du dich, was du mir angetan hast?«
    Dafydd versuchte, darüber nachzudenken. Er verstand nicht, was sie meinte, aber er wollte auf gar keinen Fall zum Angriffsziel eines affenartig behaarten, eine Axt schwingenden Holzfällers werden.
    »Frag Dr. Odent«, stöhnte er und wünschte sich, dass sie ging. »Er führt Abtreibungen in seinem Wohnwagen durch, und ich habe gehört, dass er sehr kurze Röcke mag. Oder Hogg. Du weißt, wie versessen er auf dich ist. Er würde es machen.«
    »Nein. Du weißt, was für ein kleiner Ort Moose Creek ist«, lachte sie. »Ich will nicht, dass es sich rumspricht. Außerdem teilen wir beide ein schmachvolles Geheimnis.«
    Moose Creek? Er war doch in Cardiff. Dafydd presste die Augen zusammen und hoffte, sie würde sich in Luft auflösen. Es war nicht fair. Er war krank.
    »Na komm, Dafydd, sei nicht so unglaublich prüde.« Sie stupste seinen Arm an. »Hier in der Wildnis werden solche Dinge dauernd gemacht. Wenn dein Empfinden derart leicht verletzt wird, solltest du überhaupt nicht hier sein. Du bist nicht in einem feinen britischen Krankenhaus.«
    »Aber das bin ich doch«, protestierte er schwach. »Das hier ist ein feines britisches Krankenhaus.«
    Sheila lachte. Ihre Zähne waren spitz wie die einer Katze.
    Ihr spöttisches Gelächter machte ihn wütend. »Du weißt ganz genau, wie gefährlich es ist. Wirklich, du könntest verbluten. Es ist illegal, und es ist unethisch …«
    »Oh, hör auf«, fauchte sie, »du und deine verfluchte Ethik …«
    Jemand klopfte ihm auf die Schulter, und Sheila verblasste. Sein lädierter Körper wurde auf dem Bett auf die Seite gerollt, und er spürte einen Druck in den Ohren. Am liebsten hätte er sich übergeben. Vielleicht wurde er erlöst, wenn er sich erbrechen und von allem befreien konnte.
    »Haben Sie Schmerzen, Mr Woodruff?«, fragte Dr. Thakurdas und schüttelte behutsam seine Schulter. »Sie haben im Schlaf geschrien und gewimmert. Wir sind ein wenig besorgt um Sie.«

KAPITEL
6
    Moose Creek, 1992
    E R WOLLTE GERADE klopfen, doch dann zögerte er und blickte auf seine Uhr: 8.38. Ian Brannagan war kein Morgenmensch, das war überdeutlich geworden. Er sah sich um. Das winzige einstöckige Haus hatte eine rundherum laufende Veranda, wie er sie aus dem Süden der USA kannte. Davor lag ein verwahrloster Garten, den die Reste eines weißen Lattenzauns umgaben. Sehr seltsam, hier draußen in der Walachei

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