Zeit der Eisblueten
entfernt. Dafydd konzentrierte den Blick auf die Bewegung von Ians langen, dünnen Beinen. Er versuchte, in Ians Fußstapfen zu treten, aber sie harmonierten nicht mit seinen. Eine Zigarette baumelte von Ians Fingern. Er schnippte sie fort. Dafydd musterte die trockenen Kiefernnadeln auf dem Boden. Entstanden so nicht Waldbrände? Er hörte, wie hinter ihm ein Ast brach, und zuckte zusammen. Dann ein lautes Rascheln von Laub und Zweigen. Ein Bär? Ein Vielfraß?
»Ian, warte!«, rief Dafydd und rannte los, um ihn einzuholen. Ians Gewehr wippte beruhigend an seiner Schulter. Sie gingen Seite an Seite, freundschaftlich, aber im ungleichen Rhythmus.
»Deine Narbe, woher stammt die? Doch bestimmt nicht von einem Kampf?«
»Ach, die Narbe. Die ist alt. Ich war dreizehn. Hab versucht, einen Hund zu retten – meinen Hund. Aus einem brennenden Haus. Habe mich dabei fast an der Stange eines Metallgeländers erhängt.«
»O Gott, das klingt scheußlich.«
»Der Hund hat’s wenigstens überlebt«, meinte Ian tonlos, »meine Eltern nicht.«
»Ian, das tut mir leid.«
Plötzlich stürzte Thorn ins Dickicht und knurrte irgendeinen realen oder fiktiven Feind an. Sie blieben stehen, und sogar Ian wirkte beunruhigt. Einen Moment später kehrte der Hund stolz mit einem Hasen im Maul zurück. Er ließ ihn vor seinem Herrn fallen.
»Braves Jungchen«, lobte Ian und tätschelte den beigen Kopf. Es war offensichtlich, warum er mit Menschen nicht sonderlich viel anfangen konnte. Er hatte früh erkannt, wer der beste Freund des Menschen ist. Aufmerksam beugte er sich vor und untersuchte Thorns Fell. »Scheiße, du bist voll von Flöhen«, rief er.
Dafydd blickte auf den toten Hasen hinab. Er sah, wie die Flöhe geradezu von ihm flüchteten, in alle Richtungen, aber vor allem zu Thorn. Wir alle verlassen das sinkende Schiff, dachte er. Das tun selbst die Flöhe. Nur Ian nicht …
Er hatte noch keine Operationen durchgeführt. Darüber war er froh, obwohl es zu seiner Arbeit gehörte. Wie sich herausstellte, wurden, von dringenden Notfällen abgesehen, die meisten Patienten, die operiert werden mussten, nach Edmonton oder Saskatoon geflogen. Nicht, weil das Krankenhaus nicht geeignet gewesen wäre – sein OP-Bereich verfügte über eine gute, moderne Ausstattung. Vielmehr lag es an Hoggs Strategie, allen größeren Risiken und Verantwortlichkeiten auszuweichen und bei maximalem Gewinn so wenig wie möglich zu tun.
Hogg hatte zweifellos gehofft, das Behandlungsspektrum auszuweiten, aber in Dafydd fand er einen zögerlichen Chirurgen. Doch welcher ehrgeizige Chirurg würde mit Freuden in einer heruntergekommenen Stadt mitten im Nirgendwo seine Haut für ein jämmerliches Gehalt riskieren? Stattdessen übernahm Dafydd die Rolle eines Allgemeinmediziners und empfing eine Prozession missgestimmter Patienten in seinem winzigen Sprechzimmer, das wie eine Gefängniszelle aussah und auch solch eine Atmosphäre hatte.
Zur großen Belustigung des Personals hatte er verkündet, dass er gern ein paar Hausbesuche machen würde. Man hatte sich über seine Bitte köstlich amüsiert und sie als britische Exzentrik abgetan. Warum sollte er sich die Mühe machen, fragten sie sich, wenn doch die meisten Patienten Autos hatten und der Rest per Taxi oder Krankenwagen in die Klinik gebracht wurde, wo er sie dann seinem eigenen Zeitplan entsprechend behandeln konnte.
»Wir wollen hier keine neuen Moden einführen«, hatte Hogg ihn gewarnt. »Die Leute sind auch so schon verwöhnt genug.«
»Nur ein paar Besuche«, hatte Dafydd insistiert. »Ich würde gern sehen, wie die Leute leben und was sie tun.«
Hogg hatte ihm auf die Schulter geklopft und erwidert: »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, junger Mann. In ein oder zwei Tagen werden Sie nur allzu froh sein, es so tun zu können wie wir. Denken Sie an meine Worte.«
Ein paar Wochen nachdem er seine Stelle angetreten hatte, machte sich Dafydd also mit dem alten Chrysler der Klinik zu seinem ersten »Hausbesuch« auf. Es war Mitte September, und die Sonne, obwohl noch hell, wärmte nicht mehr. Die Kiesstraße schlängelte sich gemächlich durch dicht stehende Fichten und Tannen. Rund dreizehn Kilometer jenseits der Stadt erreichte er die Kuppe eines Hügels und erkannte sofort die schimmernde Landschaft auf der Postkarte, die Hogg ihm geschickt hatte. Er hielt an und stieg aus.
Die Aussicht war atemberaubend. Unregelmäßig geformte Seen glitzerten in der ausgedehnten Weite des Mackenzie
Weitere Kostenlose Bücher