Zeit der Eisblueten
unförmiger, wasserfester Kleidung saßen reglos am Geländer und starrten, jeder ganz für sich, auf ihre Ruten. Wovor sie auch geflohen sein mochten, dieser Treffpunkt war so gut wie jeder andere, da keiner von ihnen je einen Fisch zu fangen schien. Dafydd ging an ihnen vorbei und lugte in ihre Eimer, aber niemand von ihnen blickte auf oder schien auf eine Unterhaltung erpicht zu sein.
Auf beiden Seiten des Bauwerks standen überdachte Bänke, kleine Hütten, die über das Wasser ragten und in denen Liebende Schutz vor dem Wind finden konnten. Heute fehlten die Liebespaare, denn der Abend war nicht romantisch. Doch die Sitze waren trocken. Er ließ sich dort nieder und nahm kleine Schlucke aus der Flasche, während er den Tankern zusah, die sich auf dem glatten Wasser hin und her schoben. Ebbe setzte im Kanal ein und saugte das Wasser mit einiger Geschwindigkeit ab. Dabei wurde der braune Schlamm unter dem Pier sichtbar.
Dafydd zog die Jacke um sich zusammen und dachte an seine Arbeit. Diese Geschichte mit der ungerechtfertigten Vaterschaftszuweisung hatte für ihn immerhin einen Vorteil. Sie hatte seine generelle Trägheit hervortreten lassen, eine Schwerfälligkeit, die nach und nach in sein Leben gekrochen war. Er schien sich mit dem abgefunden zu haben, was jeder andere Facharzt tat: gewissenhaft arbeiten, Geld auf die hohe Kante legen, die Hypothek abbezahlen und auf die Pensionierung warten. Dann sollte das wirkliche Leben beginnen, in Form eines langen verdammten Golfspiels. Doch vorher hatten die meisten von ihnen Herzinfarkte und starben.
Er kannte das alles, so war es auch bei seinem Vater abgelaufen. Doch seine eigenen erbärmlichen kleinen Rebellionen gegen den Sog dieses Trends – wie die Weigerung, ein Auto zu besitzen, oder die Ablehnung von Privatpatienten – vermittelten ihm in Wahrheit kein heroisches Gefühl. Vielleicht würden sich die Dinge ändern, wenn die DNA-Geschichte erledigt war. Eine Art Neubeginn, sowohl in seinem Leben als auch in seiner Ehe.
Inzwischen war es dunkel, aber das störte ihn nicht. Die Wolken hatten sich ein wenig geteilt, und die Lichter von Western-Super-Mare flimmerten schwach. Dafydd hatte sich versprochen, eines Tages mit dem alten Raddampfer hinüberzufahren, es jedoch nie getan. Er setzte die Flasche an den Hals und leerte den restlichen Whisky. Der Alkohol sickerte in seinen Blutkreislauf und hinterließ ein glühendes Gefühl in seinen Gliedern. Er stand auf, warf die Flasche in einen Abfalleimer und ging den Steg zurück. Die Angler hatten sich nicht bewegt.
Die Kneipe an der Esplanade war geöffnet, und er musste pinkeln. Dann konnte er auch gleich ein Glas trinken und sich dazu einen Beutel Erdnüsse bestellen. Im Haus gab es nichts. Der Kühlschrank war leer – von Isabels Flaschen mit Vitamintabletten und chinesischen Kräutermitteln, die angeblich die Fruchtbarkeit stärkten, einmal abgesehen.
Zwei Stunden später kehrte er zu der Velocette zurück. Er fühlte sich richtig gut. Es war wunderbar, etwas Zeit für sich selbst, zum Nachdenken, zu haben. Er würde alles anders machen, wenn diese ganze alberne Angelegenheit vorbei war. Er würde den Staub von seiner Gitarre wischen, vielleicht sogar mit dem blöden Angeln anfangen, er konnte allein ein wenig meditieren, wieder mit dem Laufen anfangen und einen eisenharten Hintern bekommen. Mit dem Fernsehen aufhören und all die Bücher lesen, die er sich dauernd kaufte, ohne sich die Zeit zum Lesen zu nehmen …
Dafydd schwankte ein wenig, als er wiederholt auf den Kickstarter trat. Er dachte kurz darüber nach, ob es ratsam war, auf sein Motorrad zu steigen, aber zur Hölle, es musste mindestens neun Uhr sein, vielleicht sogar zehn; der Verkehr hatte sich bestimmt schon abgeschwächt. Er war solch ein Musterknabe, dass er keinen einzigen Strafpunkt auf dem Konto hatte.
Hurra! Das Motorrad startete sofort. Zärtlich tätschelte er den Benzintank. Wunderbares altes Mädchen. Er fuhr den Hügel hoch an den Klippen entlang, die sich vom Ufer erhoben, und folgte dem Einbahnstraßensystem, das zurück in die Stadt führte. An der Westbourne Road übersah er das Vorfahrtsschild, und als er vorsichtig, aber total betrunken weiterrollte, krachte ihm ein grüner Volvo mit fast fünfzig Stundenkilometern in die Seite.
In weiter Ferne bemerkte Dafydd ein Licht. Es verteilte sich wie winzige Quecksilbertropfen über seine Netzhaut. Sie sprangen und hüpften und ließen seine Augäpfel unerträglich schmerzen.
Weitere Kostenlose Bücher