Zeit der Eisblueten
…«
»Steig aus, verdammt«, befahl sie.
Dafydd stolperte aus dem Auto, und sie startete mit donnerndem Motor, wobei sie auf der vereisten Straße wie verrückt herumschleuderte. In dem Bewusstsein, dass seine Hose noch offen war, stöberte er in den Taschen nach seinen Schlüsseln. Eine Ahnung ließ ihn aufblicken, und dort, am dunklen Fenster des benachbarten Wohnwagens, stand Ted O’Reilly. Dafydd konnte deutlich das boshafte Grinsen in seinem unrasierten Gesicht sehen. Der Mann machte ein Daumen-hoch-Zeichen, das er mit ein paar obszönen Hüftbewegungen begleitete. Stöhnend wandte sich Dafydd ab und versuchte, den verfixten Schlüssel ins Schloss zu stecken.
KAPITEL
9
Cardiff, 2006
L ieber Dad,
ich hoffe, es macht Dir nichts aus, wenn ich Dich Dad nenne. Meine Mom hat mir alles über Deine Vorsicht und darüber erzählt, dass Du die Dinge nicht überstürzen willst, bevor die Bluttests nicht abgeschlossen sind. Das ist in Ordnung. Ich verstehe das alles, aber ich hoffe, dass Du ein kleines bisschen glücklich darüber sein wirst, eine Tochter und einen Sohn zu haben. Ich versichere Dir, dass ich wirklich glücklich bin, einen Dad zu haben. Alle meine Freunde haben Dads bis auf Melissa und Cas. Ihre Eltern sind geschieden, und sie hören nichts mehr von ihren Dads, weil ihre Dads Moose Creek verlassen haben. Das ist sehr traurig, findest Du nicht?
Wir haben den Test vor zwei Wochen gemacht, oder vielmehr musste sich meine Mom Blut abnehmen lassen, und Mark hat das auch getan. Ich habe Angst vor Nadeln, darum entschied meine Mom, dass es reichen würde, wenn nur Mark den Test macht. Schließlich sind wir Zwillinge, jeder weiß das. Ich würde gern wissen, ob Du uns vielleicht besuchen wirst, wenn Du herausgefunden hast, dass wir Deine Kinder sind. Das hoffe ich natürlich. Ich habe viel, was ich Dir zeigen kann, zum Beispiel Fotos von uns als Babys und so.
In Liebe
Miranda XXX
Dafydd las den Brief zweimal, dann ließ er ihn auf seinen Schoß fallen. Dort flatterte er in dem Luftzug, der sich kämpferisch seinen Weg durch jede Ritze zwischen den Fensterscheiben bahnte. Verflucht. Das arme Kind war fest davon überzeugt, dass er ihr Vater war. Verdammte Sheila. Die Erinnerungen an ihr aggressives Verhalten und ihre pathologische Arroganz waren nach und nach wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins gelangt. Er entsann sich, dass sie jeden Tag irgendwelche Auseinandersetzungen gehabt hatten und wie heftig sie ihn schließlich gehasst hatte.
Aber was sollte all das? Es ergab einfach keinen Sinn. Was in aller Welt erhoffte sie sich? Wie sehr er seine Fantasie auch anstrengte, spekulierte und mutmaßte, er konnte es einfach nicht verstehen. Die einzige Erklärung bestand darin, dass sie irgendeinem Wahn aufsaß, vielleicht sogar verrückt war. Oder sie litt unter einem vollständigen Gedächtnisverlust und wusste nicht mehr, mit wem sie geschlafen hatte. Möglicherweise infolge von Drogen oder Alkohol. Vermutlich würde er das nie herausfinden. Manchmal, wenn er nachts aufwachte, beschwor er alle möglichen albernen Szenarien herauf, wie sie an sein Sperma gekommen sein konnte. Sie hatte ihn einmal … masturbiert; er erschauderte, wenn er auch nur daran dachte. Aber das war alles. Es hatte in einem Auto stattgefunden, bei Minusgraden. Konnte es sein, dass sie später etwas davon in ihre Gebärmutter übertragen hatte? Nein. Das war so lächerlich wie die Vorstellung, durch das Sitzen auf einem Toilettendeckel, die Berührung mit einem Handtuch oder durch das Wasser in einem Schwimmbad schwanger zu werden.
Vielleicht war etwas Übleres geschehen? Hatte sie seinem Getränk etwas zugesetzt? Eine Vergewaltigungsdroge mit völliger postkoitaler Amnesie? Er tat den Gedanken als absurd und physisch unmöglich ab. Und warum sollte sie angesichts der Tatsache, dass sie ihn einmal gedrängt hatte, nach Dienstschluss eine Abtreibung bei ihr vorzunehmen, solch einen Aufwand betreiben, um schwanger zu werden, und dann auch noch ausgerechnet von ihm, einem Mann, den sie verabscheute …
Er ließ den Brief auf dem Sofa liegen und streifte durch das Haus. Dabei bemerkte er, wie verwahrlost es inzwischen war. Isabel und er teilten sich die Hausarbeit, aber in den zwei Wochen ihrer Abwesenheit hatte er keinerlei Lust verspürt, auch nur seine eigenen Pflichten zu erledigen. Welchen Sinn hatte das, wenn sowieso alles erneut getan werden musste? Und warum sollte man nicht ab und zu Pappteller benutzen? Seit Tagen
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