Zeit der Eisblueten
riskieren, von ihr gesehen zu werden. Eine Minute verging, dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. Langsam und vorsichtig rollte sie rückwärts auf den Spuren zurück und verschwand in Richtung Straße.
Worüber hatten sie gesprochen? Ian war draußen? Woraus? Sicherlich nicht aus ihren sexuellen Gunstbezeigungen, das würde ihn nicht scheren. Oder vielleicht doch. Jedenfalls waren die Dinge ganz anders, als es den Anschein hatte.
Dafydd wartete noch ein paar Minuten und fuhr dann auf seinen Skiern weiter bis zur Haustür. Thorns Lebensfreude war völlig wiederhergestellt. Begeistert sprang er Dafydd an, der lachend rückwärts in den Schnee fiel. Sein noch in die Kapuze eingepacktes Gesicht wurde ausgiebig von einer sehr langen, nassen Zunge abgeschleckt.
»Worum ging’s denn eben?«, fragte er Ian, nachdem er zahlreiche übereinandergezogene Kleidungsstücke abgelegt und sich mit einem Glas in der Hand vor den Holzofen hatte plumpsen lassen. Der große beige Hund dampfte zu seinen Füßen. »Ich bin gerade gekommen und konnte nicht umhin mit anzuhören, was du und Sheila auf der Veranda gesagt habt.«
Ian wirkte verärgert, weil er belauscht worden war. Seine Augen verengten sich, und er blickte Dafydd scharf an. »Ich wohne genau deshalb hier draußen im Nirgendwo, um heimliche Zuhörer zu vermeiden.«
»Soll ich mich verpissen?«, bot Dafydd unverzüglich an und bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken.
Ians Gesicht verzog sich zu einem ironischen Grinsen. »Nein, verpiss dich nicht. Ich habe sonst niemanden, der mit mir trinkt.« Er tätschelte Thorns Rumpf. »Der Hund verträgt keinen Alkohol. Er ist zu nichts zu gebrauchen.«
Ian schwieg lange nachdenklich und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen. Plötzlich umfing sie ein donnerndes Rauschen. Dafydd hob alarmiert die Augen.
»Das ist die aufsteigende Hitze«, erklärte Ian und betrachtete die geöffnete Ofentür. »Der angesammelte Schnee rutscht vom Dach.« Er zündete sich noch eine Zigarette an und schaute unter seinem wild in die Stirn hängenden Haar zu Dafydd hinüber. »Dich hat sie vermutlich nicht gefragt?«
»Sheila?« Dafydd war überrascht. »Wie ich höre, sind solche Dinge allgemein üblich … nach Dienstschluss.«
»Hat sie das gesagt?«
Beide Männer schwiegen unbehaglich und beugten sich gleichzeitig hinab, um Thorn zu streicheln. Der öffnete träge ein Auge und ließ es voller Glückseligkeit gleich wieder zufallen. Dafydd zögerte. Vielleicht hatte Sheila Ian gebeten, die Abtreibung vorzunehmen, aber es gehörte sich nicht, über die Behandlung einer Patientin zu sprechen, erst recht nicht, wenn es sich dabei um eine Kollegin handelte. Doch der Punsch ließ Dafydd unvorsichtig werden, und er war neugierig.
»Ich verstehe nicht, warum sie sich so gesträubt hat, anderswohin zu fahren und es dort machen zu lassen.«
»Also hat sie dich gefragt.«
»Ich habe mich einfach geweigert, es zu tun. Es gefällt mir nicht, wie du weißt. Ich hasse Schwangerschaftsabbrüche generell.«
Ian zuckte die Schultern. »Nun, sie hat ihre Meinung geändert.« Er zog intensiv an seiner Zigarette. Seine Finger hatten dunkelgelbe Flecke. »Sie will das Baby behalten.«
»Machst du Witze?«
»Sie hat mehr als eine Abtreibung machen lassen, und ich glaube, dass sie auf ihren gegenwärtigen Freund zählt. Er ist eine lohnende Investition. Sieht gut aus, hat viel Geld, war nie verheiratet, keine Altlasten. Ich persönlich glaube, dass sie mit Hogg besser fahren würde. Er liebt sie, seit er das erste Mal auf ihre Marmorbrüste gestarrt hat, und das ist mindestens sechs Jahre her. Er hat Geld, und er würde Anita auf ein Wort von Sheila hin wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht. Also besteht die Möglichkeit … Sind Hogg und sie …?«
»Was weiß ich denn darüber?«, lachte Ian. »Er würde nicht sehr oft an sie rankommen. Sie würde ihn knapphalten, so viel ist sicher. Er ist nützlich, aber nicht gerade sexy, oder?«
Dafydd hielt Ian sein Glas zum Nachfüllen hin. »Weißt du, manchmal begreife ich diesen Ort nicht. Gibt es hier keine Normen, keine Moral? Sheila scheint sich nichts dabei zu denken, wenn sie mit all diesen Kerlen herumjongliert. Mein Gott, sie ist wirklich schlimm. Verdorben. Aber ich bewundere ihre Dreistigkeit. Davon könnte ich selbst etwas gebrauchen. In Maßen.«
»Na, ich kann dir versichern: Sie ist nicht schlimm. Sie ist gut, teuflisch
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