Zeit der Eisblueten
erinnerte ihn an die Elfen und Trolle aus seiner Kindheit und an die Tagträume seiner Jugend über Wildnis und Überlebenskampf.
Das temperamentvolle Hündchen, Thorn, das inzwischen zu einem schlanken Bernhardiner herangewachsen war, kam immer auf den Spuren der Motorschlitten angerannt, um ihn zu begrüßen. Er witterte Dafydd schon aus eineinhalb Kilometer Entfernung. Ian war ebenfalls stets froh, ihn zu sehen. Er war kein richtiger Einsiedler, da er dazu neigte, in Bars viele Stunden mit Leuten zu verschwatzen, die er nicht einmal mochte. Aber die Abgelegenheit der Hütte ließ ein gewisses Bedürfnis nach Distanz und Einsamkeit erkennen. Dafydd beneidete ihn um die Behausung und hatte sich sogar selbst schon nach etwas Ähnlichem umgesehen. Doch da sich nun das Ende seines Arbeitsvertrags näherte, erschien es ihm nicht mehr so dringend, aus dem grässlichen Wohnwagen auszuziehen.
Eines Samstagmorgens kam Thorn nicht, um ihn wie üblich zu begrüßen, und als Dafydd die Hütte erreichte, saß der Hund neben einem Auto. Sheilas Auto. Nach der Uhrzeit zu urteilen, bestand die Möglichkeit, dass sie über Nacht geblieben war. Mutiger Mann, dachte Dafydd, sich diesen hübschen scharfen, kleinen Zähnen auszusetzen. Hatte Ian nicht gesagt, er würde sich ihnen gern erneut überlassen? Dafydd fragte sich, wie oft es die beiden miteinander trieben. Und warum? Zuweilen war eine Feindseligkeit zwischen ihnen zu spüren. Dann wieder schien sie eine Art unterschwelliger gegenseitiger Abhängigkeit zu verbinden. Offenbar tauschten sie Gefälligkeiten aus und übten gegenseitig Nachsicht. Trotzdem: War es denkbar, dass Sheila mit Ian schlief, obwohl ihre Schwangerschaft ein so großes Problem für sie war? Und würde Ian mit Sheila schlafen, wenn er von der Schwangerschaft wusste? War er vielleicht der Vater?
Nur eine Woche war es her, dass ihn Sheila um eine Abtreibung gebeten hatte. Er schüttelte sich, halb vor Kälte und halb vor Widerwillen. Der unerfreuliche Vorfall hatte sein Verhältnis zu Moose Creek weiter getrübt. Seitdem hatte Hogg ihm jedenfalls kein einziges Mal mehr auf die Schulter geklopft und auch nicht erneut von seiner Hoffnung gesprochen, dass Dafydd seinen Vertrag verlängerte. Dabei hatte Dr. Odent beschlossen, nach seinem Forschungsurlaub nicht mehr zurückzukehren, und bisher waren keine Anstrengungen unternommen worden, einen Ersatz für ihn zu finden.
Dafydd bleib an der Hauswand stehen und zögerte. Der Rückweg war weit, und er hatte sich auf das üppig bemessene Glas (oder die Gläser) mit heißem Punsch gefreut, der ihn normalerweise erwartete. Thorn kauerte neben dem Auto, und Dafydd schnipste mit den Fingern, um ihn davon fortzulocken. Er fragte sich, ob der Hund gerade hinausgelassen worden war oder die ganze Nacht im Freien verbracht hatte. Vielleicht war Thorn auch Sheila gegenüber misstrauisch. Schließlich hatten Hunde eine sehr fein ausgeprägte Wahrnehmung.
Dafydd erstarrte, als er die Tür zur Veranda knarren hörte; dann ertönte Sheilas heisere Stimme.
»Du wirst mich noch brauchen.«
»Nein«, erwiderte Ian nervös. »Hast du mir nicht zugehört? Ich bin pleite.«
Sheila hob verärgert die Stimme. »Das hast du schon letztes Mal gesagt. Gut, du bist draußen. Auf so etwas kann ich verzichten. Es ist zu kompliziert.«
»Das Risiko muss ich eingehen, Sheila. Diesmal gebe ich mir wirklich alle Mühe.«
Dafydd stand reglos da, und als Sheila ins Auto stieg, bemerkte sie ihn nicht. Wie üblich trug sie eine für das Wetter völlig unpassende Kleidung. Eine provozierend hautenge, schwarze Hose mit einer hüftlangen Schaffelljacke und zierlichen Lederstiefeln. Kein Hut, kein Schal, keine Handschuhe. Das Auto startete sofort, und sie ließ den Motor zornig aufheulen. Aber dann blieb sie still sitzen und blickte auf ihren Schoß. Plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit den Händen, und ihre Schultern krümmten sich. Sie schien zu weinen. Ihre zusammengekauerte Gestalt hatte etwas Erschütterndes. Anscheinend war sie doch normaler menschlicher Gefühle fähig und durchlebte gerade eine Krise, die sicher über eine bloße Schwangerschaft hinausging. Vielleicht war sie einfach labil, auch wenn ihre Maske nie in einer Arbeitssituation verrutschte, wie belastend diese auch sein mochte.
Dafydd wäre am liebsten unsichtbar geworden. Er wusste, was Sheila empfinden würde, falls sie merkte, dass er sie in ihrem Kummer beobachtete. Aber wenn er sich jetzt entfernte, würde er
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