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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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Dafydd arbeitete sich wieder bis auf knapp zwei Meter an den massigen Schädel heran und holte sich seine Skier und Stöcke zurück. Durch die zunehmende Finsternis fuhr er, von dem heftigen Adrenalinstoß vorangetrieben, nach Hause zurück. Er fühlte sich sehr eingeschüchtert und merkte, dass er für einen plötzlichen dramatischen Tod doch noch nicht bereit war.
    Derek Rose war tot. Leslie, Dafydds Kollegin und frühere Geliebte in Bristol, rief ihn an einem späten Nachmittag im Krankenhaus an.
    »Hast du Zeit, mit mir zu sprechen?«, fragte sie besorgt.
    »Ja, ich bin gerade dabei, meine Arbeit für heute zu beenden. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«
    Leslie teilte es ihm sofort mit. Sie hatte es gerade selbst von einem Kollegen erfahren.
    »Aber hör mir jetzt mal zu«, forderte sie ihn energisch auf. »Es ist nicht deine Schuld. Der Krebs hatte auf seine Lungen übergegriffen. Er hat keine Chance gehabt. Vermutlich hatte er die nie.«
    Dafydd war erschüttert und brachte kein Wort hervor.
    »Hör zu«, bat Leslie. »Mit seiner Mutter ist alles in Ordnung. Sie hat einen netten Mann gefunden, und sie erwarten ein Baby. Sie wird es hier in diesem Krankenhaus bekommen.« Sie machte eine Pause und wartete auf seine Reaktion. »Dafydd, nun komm schon. Sie wusste schon sehr lange, dass Derek schwer krank war. Sie wusste, dass es geschehen würde.«
    Dafydd sah Sheila auf sich zukommen und versuchte, sie wegzuwinken. Aber sie blieb mit gekreuzten Armen und kaltem, grimmigem Gesichtsausdruck stehen. Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Ärmel und blickte auf ihre Uhr.
    »Vielleicht hätte ich es dir nicht erzählen sollen«, meinte Leslie jetzt. »Ich dachte, es sei richtig, dich …«
    »Ja … nein, unbedingt. Natürlich musstest du mir das sagen, Leslie. Es ist gut, dass du mich informierst. Ich … Ich werde etwas Zeit brauchen, um es sacken zu lassen. Kann ich dich später zurückrufen?«
    Er legte den Hörer auf und schaute aus dem Fenster. Die Sonne strahlte, und das Versprechen des nahenden Frühlings berührte alles, nur das Land wusste es noch nicht. Es gab sich noch immer gefroren, weil es weiterhin unter einer Decke aus Schnee lag. Aber er konnte erkennen, dass das Eis zerfiel und aufbrach und einen grauen Schlamm hinterließ, der bald versickern würde. Dieser Frühling gehörte den Lebenden; nirgendwo sonst auf der Welt traf das in stärkerem Maße zu, und er war hier, sicher und lebendig. War das gerecht?
    »Was ist los?«, fragte Sheila. »Du siehst beschissen aus. Hat dir jemand zu Hause den Laufpass gegeben?«
    »Das könnte man vielleicht so nennen.« Dafydd drehte sich zu ihr um und fragte sich, ob sich irgendwo hinter ihren eisigen blauen Augen ein Fünkchen Mitgefühl verbarg. »Jemand ist gestorben.«
    Sheila hielt inne. Die Feindseligkeit ihrer unerfreulichen Auseinandersetzung in seinem Sprechzimmer schwebte noch immer zwischen ihnen, aber jedenfalls war ihre Miene nun angemessen ernst. »Das tut mir leid«, sagte sie rasch, »aber versuch, das vorläufig zu vergessen. Wir haben drei potenzielle Leichen am Hals. Drei Jungen, halb ertrunken und stark unterkühlt. Sie haben Bowlbys Auto gestohlen und sind damit auf das Eis des Jackfish Lake gefahren. Den Rest kannst du dir denken.«
    In jener Nacht glitt er nach mehreren Stunden unsteten, unruhigen Schlafs in einen Traum. Ein kleines Tier stieß ihn an. Seine feuchte, kalte Nase stupste ihn wieder und wieder in die Seite. Aber er fürchtete sich vor ihm, fürchtete sich so sehr, dass er sich nicht rühren konnte. Das Tier blickte in der Dunkelheit auf ihn herab. Es war ein Fuchs, klein und mit spitzer Nase. Er wusste, dass es sich um Derek handelte, der wissen wollte, warum er tot war, warum Dafydd ihn getötet hatte.
    Er schrie, und Sheila tauchte auf. Auch sie verlangte Antworten: Was war los mit ihm, warum war er solch ein Feigling, warum rief er nach ihr, schrie ihren Namen? Er begehrte sie nicht, aber er war zornig, kochte vor Wut, darum nahm er sie. Er wollte sie verletzen, und sie ließ ihn gewähren. Es schien ihr zu gefallen. Ihr weißer Körper glühte in der Dunkelheit, und die Stelle zwischen ihren Beinen hatte die Farbe von Feuer. Er versuchte, in jede dunkle Aushöhlung ihres Fleisches einzudringen. Als sie sich schließlich zur Wehr setzte, biss er sie in die Brust, in den Bauch, in die Scham, wo sich die Haare wanden wie die Schlangen auf dem Haupt der Medusa.

KAPITEL
11
    Cardiff, 2006
    L IES DAS «, SAGTE Dafydd, und

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