Zeit der Eisblueten
spontan.
Beide blieben wie angewurzelt stehen und starrten einander an, ihre Arme noch immer grotesk miteinander verschlungen. Die Ohrfeige hatte sie immerhin beruhigt. Sie schien zu erschlaffen.
»Das wirst du dein Leben lang bereuen«, sagte sie kalt und stieß ihn weg, wenn auch nicht zu heftig.
»Sheila, ich bereue es jetzt schon.« Seine Stimme bebte unter einer Mischung aus Bestürzung und verpufftem Zorn. »Das hätte ich auf keinen Fall tun sollen, und ich entschuldige mich dafür.«
»Du wirst dafür bezahlen.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber bitte erinnere dich daran, dass du mich zuerst angegriffen hast. Trotzdem war es unverzeihlich.«
»Gut, dann tu es. Ich akzeptiere die Abtreibung als Entschuldigung.«
»Nein.« Dafydd geleitete sie entschlossen zur Tür. »Aber ich werde mit Freuden alles tun, um dir den Eingriff zu ermöglichen. Du brauchst mir nur Bescheid sagen.« Er hielt ihr die Tür auf.
Sheila knallte sie heftig hinter sich zu. Durch die Erschütterung fiel ein Druck von der Flurwand. Dafydd hörte den Aufprall, das Splittern von Glas und Sheilas sich hastig entfernende Schritte. Er öffnete die Tür, begutachtete den Schaden und las die Scherben mit zitternden Händen auf. Hatte sie ihn gezielt angegriffen, war sie derart gerissen? Er konnte es sich kaum vorstellen, alles war so schnell geschehen.
Die Kälte hatte nicht nachgelassen. Alle beschwerten sich, es sei der härteste Winter aller Zeiten. Sie gaben allerdings zu, dass dies jedes Jahr behauptet wurde, weil beinahe jeder Winter genauso höllisch kalt war. Die Stadt war hässlich und wurde von den betonharten Bergen aus schmutzigem Eis und Schnee fast erdrückt. Aller mögliche Abfall war innen und obendrauf festgefroren; selbst auf den Gehwegen lag eine bunte Mischung aus Müll, verewigt unter der vereisten Oberfläche.
Die Dunkelheit schien nicht zu weichen. Niemand bemerkte, dass die Tage länger wurden. Depression, häusliche Gewalt und Alkoholismus intensivierten sich zu dieser Jahreszeit. Diejenigen, die nicht in diesem Land der Extreme geboren worden waren, litten am meisten.
Dafydd, der um seine eigenen Schwächen wusste, ließ sich etwas einfallen. Sein Knöchel war schnell geheilt, und er stand wieder auf seinen Skiern. Je öfter das Licht es zuließ, desto mehr Zeit verbrachte er draußen in der Wildnis. Er hatte sich eine geeignete Ausrüstung kommen lassen, und die Kapuze seines neuen Parkas umgab sein Gesicht wie ein Rohr. Sie schränkte seinen Blickwinkel ein, aber sie schützte empfindliche Körperausstülpungen wie Nase oder Ohrläppchen. Der Zauber und die Stille der weißen Bäume milderten seine jahreszeitlich bedingte Angst. Es gab nur wenige Anzeichen von Leben, was sowohl tröstlich als auch unheimlich war. Die einzigen sichtbaren Geschöpfe waren die Raben. Ihre schwarzen, in den Baumgipfeln flatternden Schwingen lösten geräuschlose Lawinen aus Pulverschnee aus, und ihr überraschendes Geschrei zerriss gelegentlich die Stille.
Dafydd war vor den Grizzlys gewarnt worden. Nicht immer hielten sie Winterschlaf. Ein Grizzly schleicht sich lautlos an seine Beute heran. Im Gegensatz zu anderen Bären fürchtet er sich kaum vor Menschen, er meidet lediglich ihre Siedlungen. Hier draußen war Dafydd gezwungen, sich mit seiner Angst vor dem Tod auseinanderzusetzen. Ein dramatisches Ende wäre ihm am liebsten gewesen. Seine Angst vor dem Tod hatte sich stets seiner seelischen Verfassung entsprechend geändert. In glücklichen Zeiten hasste er die Vorstellung, dass das Leben so unwiderruflich endete, doch im vergangenen Jahr war ihm der Tod als nichts sonderlich Erschreckendes erschienen. Jedenfalls wollte er, wenn seine Zeit kam, mit einem gewissen Stil abtreten. Von einem Bären zerfleischt zu werden oder in einer subpolaren Gegend zu erfrieren fand er akzeptabel, anders als an Prostatakrebs zu sterben oder, noch schlimmer, in einem Pflegeheim in Swansea dahinzuscheiden wie seine Mutter.
Samstags fuhr er meistens auf Skiern zu Ians Hütte hinaus. Dazu nahm er eine Abkürzung durch den Wald und näherte sich der Behausung aus einem Winkel, der keine Sicht auf die Straße bot. Der aus dem Schornstein steigende Rauch war schon von weitem zu erkennen. Da es kaum einen Windstoß gab, stieg der Rauch in einer starren Säule hoch in die Stratosphäre. Wenn er dann näher kam, sah er die kleine, bis an die Schindeln im Schnee versunkene Hütte, die von hohen, ganz und gar weißen Bäumen umstanden war. Der Anblick
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