Zeit der Eisblueten
abzuwerten, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Warum sonst verunglimpfte sie ihn so gnadenlos wegen eines in ferner Vergangenheit begangenen Fehlers, eines Fehlers, an den er sich noch nicht einmal erinnern konnte (und der seiner Meinung nach auch nie stattgefunden hatte). Und der Anruf bei Leslie, in dem sie eine Neigung zu sexueller Gewalt andeutete. Das war ein abscheulicher, hinterhältiger Schritt, der ihrer nicht würdig war.
Sie konnte doch nicht wirklich der verrückten Behauptung glauben, dass er ein Vergewaltiger sei. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber – oder war es gewesen –, und in seinen Fantasien konnte er sich manchmal ausmalen, eine von ihm begehrte Frau zu überwältigen, zu unterwerfen und zu besitzen, aber das war alles. Hatte nicht jeder solche Fantasien? Isabel und er pflegten sie zu teilen. In ihren ersten Ehejahren wollte sie oft, dass er sich ihr wie ein Neandertaler näherte. Sie bat ihn darum, und er gehorchte ihr nur allzu gern. Was sie erregte, erregte auch ihn. Verdrehte sie diese kleinen privaten Szenen zwischen ihnen zu ihrem eigenen Nutzen, oder fragte sie sich etwa tatsächlich …?
Leslie klatschte vor seinem Gesicht in die Hände. »Hallo, ich bin noch immer da.«
»Entschuldige, Leslie.« Er überlegte, ob er ihr von seinem schrecklichen Verdacht erzählen sollte. Aber er hatte keinen konkreten Beweis für eine Affäre. Außerdem schuldete er Isabel noch immer Loyalität. Stattdessen fragte er: »Und wie lautete deine Antwort? Was hast du ihr gesagt?«
»Ich hätte ihr sagen sollen, dass sie sich verdammt noch mal um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll, aber ich dachte, dass dir das nicht sonderlich helfen würde. Also habe ich geantwortet, du seist durch und durch ein Gentleman gewesen.«
Dafydd lachte. »Ein Gentleman? Wie sexy! Ich würde sagen, dass du dich einfach nicht daran erinnerst.«
Leslie kicherte und errötete schicklich. »Na, schließlich ist es mindestens fünfzehn Jahre her. Was erwartest du denn?«
Dafydd nahm ihre Hand und blickte ihr in die Augen. »Leslie, du kennst mich. Es gibt keinen Grund, warum ich dich belügen sollte, oder? Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich nie mit dieser Frau in Kanada geschlafen habe? Ich möchte, dass wenigstens ein Mensch meinem Ehrenwort Glauben schenkt.«
»Um Himmels willen, sei nicht so melodramatisch«, wies Leslie ihn mit einem freudlosen Lachen ab. »Wie könnte ich das, Dafydd? Ich bin Wissenschaftlerin. Ich weiß, dass der DNA-Test narrensicher ist. Er ist ein wahres Wunder und hat alles verändert. Denk an all das, was wir damit erreichen, an die Verbrechen, die wir aufklären können …«
»… an all die Väter, die wir zu Unterhaltszahlungen verdonnern können«, unterbrach er. »Sicher, Leslie, ich stimme dir zu.« Dafydd spähte durch das klaffende Loch im Glas und sah den Geräteschuppen, der noch immer im Garten auf der Seite lag; die überall verstreuten Äste, die der Sturm abgebrochen hatte; den mit Torf gefüllten Schubkarren, der vor Wochen mitten in der Arbeit stehen gelassen worden war. All das musste warten. Er hatte genug. Es gab jetzt für ihn nur eine vorrangige Aufgabe.
»Hör mal, Les. Ich habe mich gerade entschieden. Ich fliege hin. Ich hab bald Urlaub und kann mir zusätzlich einige Zeit unbezahlt freinehmen. Ich fliege nach Kanada, um das Ganze in Ordnung zu bringen, und wenn das die letzte Sache auf der Welt ist, die ich erledige.«
Leslie ließ ihre Dose gegen seine scheppern, aber ihr Gesicht war neutral. »Was hast du denn vor?«
»Keine Ahnung. Wenn die Kinder so aussehen wie ich, werde ich es vermutlich akzeptieren müssen.« Er zog das Foto von Miranda und Mark aus seinem Portemonnaie und reichte es ihr. »Ich erkenne darauf keinerlei Ähnlichkeit mit mir, und du?«
Sie warf einen kurzen Blick über den Brillenrand auf das Foto. »Entschuldige, Dafydd, aber ich halte das für unerheblich.«
»Abwarten.«
»Na, dann bon voyage.« Mehr schien ihr dazu nicht einzufallen.
Das Wetter war von einem Tag auf den anderen umgeschlagen. Ein ungewöhnlicher Kälteeinbruch hatte Dafydd veranlasst, auf dem Dachboden nach dem alten Schaffellmantel seines Vaters zu suchen. Es drohte zu schneien, aber der Himmel hielt den Schnee zurück und wartete noch damit, die Flocken auszuschütten und die schlammigen Felder des Vale weiß werden zu lassen. Vorläufig regnete es eisige Nadeln, die in alle Richtungen gepeitscht wurden.
Dafydd hielt an der Straße unter der Burg an,
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