Zeit der Finsternis
heraustrat.
Und plötzlich wurde mir klar, dass wir ohne Olivia nie an das Grimoire herangekommen wären, denn Melissa hatte das Versteck zusätzlich mit einem Zauber versiegelt. So konnte sie sicher sein, dass all ihre Aufzeichnungen und Zaubersprüche nicht in den Händen der Vampire verblieben, sondern an die rechtmäßige Erbin übergingen.
Es schien fast so, als hätte Olivia alles um sich herum ausgeblendet, als sie, immer noch im Schnee kniend, ehrfürchtig über den Ledereinband strich und das Buch mit allergrößter Vorsicht heraushob.
Sie erhob sich, presste sich das Grimoire fest an die Brust und wandte sich zu uns um. Eine Träne rollte über ihre, vor Kälte gerötete Wange und es war das erste Mal, dass sie seit unserem Treffen im Hotel eine Gefühlsregung zeigte.
"Meine Mutter hat mir mitgeteilt, dass ich hiermit verpflichtet bin, für Damians Untergang zu sorgen. Und...das nicht alle eurer Art Mörder ohne Gewissen sind. Sie hat das Buch mit einer letzten Nachricht an mich verbunden. Als ich es gerade das erste Mal berührt habe, hat sie mir Bilder aus ihren Erinnerungen gezeigt." Sie schluckte schwer und sah zu Max, der Melissa mal ein guter Freund gewesen war.
"Es tut mir leid, Max." Ihre Stimme war ein betroffenes Flüstern.
Er kam einen Schritt auf sie zu, breitete die Arme aus und sah sie fragend an. "Darf ich?", wollte er von ihr wissen. Sie nickte nur und stürzte sich mit einem Schluchzer in Max Umarmung. Weinend vergrub sie ihr Gesicht in seinen Mantel.
Max strich ihr über das Haar. "Deine Mutter war eine bewundernswerte Frau, sie hatte es auf keinen Fall verdient, so zu sterben.", flüsterte er in ihr Ohr.
"Sie...sie hat mir so gefehlt und jetzt...bekomme ich nie mehr die Chance, sie zu sehen!", presste Olivia zwischen ihren Schluchzern hervor.
"Ich bin mir sicher, irgendwann wirst du sie wiedersehen.", erwiderte Max mit aufrichtiger Überzeugung. Man erzählte sich nämlich, dass sie Seelen der Hexen in einer Parallelwelt weiterlebten. Wenn das der Wirklichkeit entsprach, würde Max tatsächlich recht behalten.
Schweigend traten wir den Rückweg an, Olivia hatte noch immer das Buch umklammert und schniefte. Doch langsam schien sie sich zu beruhigen. Anscheinend war das, was Melissa ihr gezeigt hatte, extrem aufwühlend für sie gewesen. Doch sie wollte nicht darüber sprechen und das respektierten wir.
***
Zurück im Büro der Agency versammelten wir uns alle sofort wieder im Besprechungsraum. Valentina informierte Caroline und Dorian darüber, dass wir das Buch gefunden hatten und kam gerade mit den beiden durch die Tür, als Olivia das Grimoire auf den Tisch legte und aufschlug.
Fieberhaft blätterte sie Seite für Seite um. Am vergilbten Papier konnte man erkennen, dass das Buch schon sehr, sehr alt sein musste, doch Melissas Aufzeichnungen waren einwandfrei lesbar.
Stirnrunzelnd überlog Olivia das Geschriebene, während wir stumm da saßen und abwarteten.
Ich musterte ihre wechselnde Miene und wagte es kaum zu atmen.
Plötzlich sah sie auf. Ihre Augen glühten und ihr Blick traf mich mit voller Wucht, sodass ich einen Stich in meiner Magengrube verspürte.
"Ich habe es gefunden.", erklärte sie mit monotoner Stimme, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Ich sog scharf Luft ein und war versucht, aufzuspringen. Doch ich hielt mich gerade noch zurück und sah sie fragend an. "Ist es tatsächlich möglich?" Meine Stimme war nicht mehr als ein brüchiges Flüstern.
"Ja", hauchte sie nur.
Ein erleichtertes Raunen ging durch den Raum. Max zog Valentina an sich und gab ihr einen Kuss. Caroline drückte fast unmerklich Dorians Hand und lächelte ihn an. Und auch Benjamin und Ava schienen aufzuatmen.
Ich musste schlucken, denn der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, schien riesig zu sein.
Wir waren so nah dran! Jetzt mussten wir nur noch unseren Plan ausarbeiten, dann konnten wir endlich den Versuch unternehmen, Tamara zu befreien.
***
"Die Wachen sind der Schlüssel", erklärte Max, als wir uns in den späten Abendstunden erneut zusammengesetzt hatten, um jedes Detail unseres Befreiungsversuchs zu besprechen.
Wir wollten keine weitere Zeit mehr verstreichen lassen, deshalb beschlossen wir, am Abend des nächsten Tages zuzuschlagen.
Olivia hatte sich zurückgezogen, um sich in Ruhe auf das Ritual vorzubereiten.
"Und wie kommen wir an ihnen vorbei?" Valentina legte ihre Stirn in Falten.
"Wir müssen sie blitzschnell und lautlos erledigen. Also fällt ein frontaler Angriff schon
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