Zeit der Hingabe
bedrückter. Pawlfrey House war ein Ort, der jeden Bewohner in die Schwermut trieb.
Er ließ sein Pferd satteln und ritt in den nebelverhangenen Morgen mit der Befriedigung, dass Miranda einen weiteren Tag auf Sonnenschein verzichten musste. Hier im kalten Norden würde sie leben wie ein Maulwurf. Ihre Augen würden sich in dem düsteren Grau zu schmalen Schlitzen verengen. Eigentlich ein Jammer, da sie bezaubernd große braune Augen hatte.
Irgendwann würde er zum vernichtenden Schlag ausholen. Heute Nacht würde er den völligen Ruin von Lady Miranda Rohan einleiten.
Und morgen wäre er fort.
16. Kapitel
E igentlich wusste Jane nicht, wieso sie sich mitten in der Nacht in diesem fremden Gasthaus nach unten wagte. Allerdings hatte sie in der Kutsche so viele Stunden geschlafen, dass sie hellwach im Bett lag. Aber etwas anderes verleitete sie dazu, etwas Geheimnisvolles, worüber sie nicht nachdenken wollte, und es hatte mit dem Kutscher zu tun, dem hochgewachsenen Pferdepfleger, vor dem die gute Mrs Grudge sie gewarnt hatte.
Jane zog ein weites Kleid über ihr Nachthemd und huschte leise die Stiege hinunter, um niemanden zu wecken. Sie hielt es in der engen Kammer einfach nicht mehr aus, außerdem schmerzte ihr Rücken von der durchgelegenen Strohmatratze. Die Bettdecke war schwer und klumpig, und wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte Jane die Nacht lieber in einem Stuhl verbringen, um ihre Kreuzschmerzen loszuwerden.
Im Erdgeschoss des Dorfgasthofes Cross and Crown gab es eine Schankstube für die einfachen Leute und ein Nebenzimmer, in dem die besseren Gäste speisten. Das Feuer im Nebenzimmer war erloschen, aber in der Schankstube nahm sie einen schwachen Schein im Kamin wahr, der sie wie magisch anzog.
Vor dem Kamin stand ein Schaukelstuhl, dem sie sich näherte, bis sie jäh verharrte. Der Stuhl war besetzt. Zuerst sah sie lange Beine in hohen Stiefeln, auf das Messinggitter gestützt. Sie wollte sich heimlich zurückziehen, hatte den Mann aber bereits geweckt, der verschlafen auf die Füße kam.
Es war der Kutscher. Ohne die Wollmütze sah sie sein Gesicht ganz deutlich und begriff, wieso Frauen ihm schöne Augen machten: ein verwegen gut aussehender Kerl mit goldenem Haar, tiefblauen Augen und einem sündig geschwungenen Mund.
Der sehnige hochgewachsene Mann in de Malheurs schwarzer Uniform war eine prachtvolle Erscheinung. Sie blickte zu ihm auf und glaubte, ein seltsames Funkeln in seinen blauen Augen zu sehen. Belustigt musterte er sie von ihrem zerzausten Haar bis zu den Füßen. Sie hätte kehrtmachen und die Stiege zu ihrer Kammer hinaufeilen müssen. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt stehen und wagte kaum zu atmen.
„Es … es tut mir leid“, stammelte sie und versuchte, sich den Anschein zu geben, als sei es für sie nichts Ungewöhnliches, mitten in der Nacht mit fremden Männern zu plaudern. Dabei hatte es in ihrem Leben bisher nur eine einzige nächtliche Begegnung gegeben, die sie nicht vergessen konnte. „Ich wollte Sie beileibe nicht wecken. Ich vermutete, Sie hätten ein Nachtlager im Stall.“ Oh Gott, wie grässlich das klang, als wolle sie ihn auf eine Stufe mit Pferden setzen. Aber wo schlief ein Kutscher eigentlich?
Er lächelte ungerührt auf sie herab. „Ja, Mylady“, antwortete er. „Im Stall gibt’s ein Lager für mich, aber es ist kalt, und ich könnte mir Flöhe einfangen oder müsste die Decke mit einem Stallburschen teilen. Also nächtige ich lieber im Stuhl vor dem Kamin. Die Wärme tut mir gut nach der langen Fahrt im Regen.“
„Ja, richtig. Sie mussten ja den ganzen Tag bei dem scheußlichen Wetter auf dem Kutschbock sitzen“, sagte sie schuldbewusst. „Sie hätten sich den Tod holen können. Sind Ihre Kleider wenigstens wieder trocken? In nassen Kleidern herumzusitzen ist ungesund. Sie könnten sich erkälten. Haben Sie etwas Warmes zu trinken bekommen?“
Er lächelte verschmitzt. „Soll ich etwa meine Kleider ausziehen, Mylady? Den Gefallen würde ich Ihnen gerne tun, aber ich weiß nicht, womit ich mich bedecken könnte, solange ich warte …“
Jane wich entsetzt zwei Schritte zurück. „Mrs Grudge hat mich gewarnt, dass man Ihnen nicht trauen kann.“
Er wirkte keineswegs verlegen. „Hat sie das gesagt?“ Er näherte sich ihr einen kleinen Schritt. „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Mylady. Seien Sie unbesorgt, ich wollte lediglich einen kleinen Scherz machen.“
Etwas an diesem Fremden war ihr merkwürdig vertraut. Einen
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