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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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erwiderte Rutledge grimmig, als der Arzt sich zum letzten Glassplitter vortastete und ihm dann einen Spiegel reichte. »Aber wie konnte er so schnell spurlos verschwinden?«
    »Sie werden dieses Pulver auf die Wunden streuen müssen«, sagte Dr. Eustace gerade und griff nach einem kleinen Päckchen, das auf dem Tisch hinter ihm lag. »Sonst fangen sie an zu eitern. Im Zeugenstand werden Sie trotz meiner Fertigkeiten keinen allzu schönen Anblick bieten. Aber wenigstens ist der schlimmste Schaden beseitigt.«
    Rutledge starrte sich im Spiegel an. Sein Gesicht war mit winzigen roten Wunden gesprenkelt, die ihn aussehen ließen, als hätte er die Masern.
    »Das macht nichts«, antwortete er dem Arzt. »Die Schnittwunden werden wieder verheilen.«
    Aber er konnte sich an das Geräusch von zersplitterndem Glas und an das vertraute Pfeifen einer Kugel erinnern, die dicht an seinem Ohr vorbeiflog. Hamish hatte recht: Er war verdammt knapp davongekommen! Er hatte die Zugluft gespürt, als die Kugel an ihm vorübergesaust war. Entweder war der Schuss von einem Scharfschützen abgegeben worden oder es war knapper gewesen, als der Schütze beabsichtigt hatte.
    Es war fast so, als pirschte sich jemand an ihn heran, der überhaupt nicht existierte. Aber die umgeknickten Grashalme neben der Hecke sagten Rutledge, dass es kein Schatten war, der ihn verfolgte.
    Er erinnerte sich aber auch an das Unbehagen, das er in Beachy Head verspürt hatte. Es hatte ihn auf dieser Weide erneut beschlichen, als er dort neben der Hecke eine große Zielscheibe bot, eine Zielscheibe, die selbst ein erbärmlicher Schütze nicht hätte verfehlen können.
    Es behagte ihm nicht, derart wehrlos ausgeliefert zu sein.

    Es gefiel ihm auch nicht, einen namenlosen, gesichtslosen Verfolger auf den Fersen zu haben, der unsichtbar war und nicht identifiziert werden konnte.
    »Genau, er könnte überall stecken«, sagte Hamish zu ihm. »Sogar in diesem Gerichtssaal könnte er von der Galerie auf dich hinabblicken.«
    Das war ein Gedanke, den Rutledge in den Zeugenstand mitnahm.
    Aber falls diese Spielchen dazu gedacht gewesen waren, ihn zu einer anderen Zeugenaussage zu bewegen, dann waren sie gescheitert.
    Er sah, wie der Häftling auf der Anklagebank verurteilt wurde, und verließ mit grimmiger Zufriedenheit den Gerichtssaal, während er gleichzeitig die Gesichter um sich herum flüchtig musterte: fünf oder sechs Frauen, doppelt so viele Männer, drei ehemalige Soldaten, die immer noch ihre Mäntel aus Armeebeständen trugen, einer von ihnen auf Krücken, und ein Bäckerjunge mit seiner weißen Schürze und Mehlstaub im Gesicht.
    Es war niemand unter ihnen, den er kannte.
    Aber war jemand darunter, der ihn kannte?

5.
    Constable Hensley war zwar nicht direkt unbelehrbar, aber um seine Selbstdisziplin war es auch nicht besonders gut bestellt. Als die Nachricht eintraf, starrte er sie einen Moment lang an und zerknüllte sie dann in seiner Faust.
    Sie trug keine Anrede und auch keine Unterschrift. Nur die Worte: »Ich habe Sie im Wäldchen gesehen.«
    Er hätte schwören können, dass er alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. Wer um Gottes willen hatte sich an jenem Nachmittag draußen auf den Feldern oder am Straßenrand aufgehalten? Warum hatten sie ihm nachspioniert? Was wussten sie? Machten sie sich eine Vorstellung davon, wie oft er sich schon in das Wäldchen begeben hatte? Ahnten sie, dass er es einfach nicht lassen konnte, Frith’s Wood immer wieder zu durchsuchen - nach Spuren auf dem Boden, nach aufgescharrter Erde, nach irgendwelchen Zeichen?
    Wo war er gewesen, dieser Beobachter? Oder war es eine weibliche Person?
    Wie oft war er schon beobachtet worden?
    Er erinnerte sich an das ausgeprägte Gefühl, außer ihm hielte sich noch jemand dort auf. An das Geräusch von Schritten irgendwo hinter sich. Als er die Möglichkeit jetzt in Erwägung zog, war er sicher, dass es doch keine Einbildung gewesen war. Frith’s Wood war immer beängstigend und vermittelte einem das unheimliche Gefühl, dort gäbe es etwas, was nicht natürlich war. Noch nicht einmal menschlich.

    Aber dieses Mal musste es sich um eine menschliche Präsenz gehandelt haben. Und er hatte sich derart von seinen eigenen Fantasien mitreißen lassen, dass er dieses Wesen irrtümlich für einen Geist gehalten hatte. Er fluchte.
    »Wenn ich meinen Grips beisammengehabt hätte, dann hätte ich ihn geschnappt!«
    Für den Rest des Tages ging er seinen Pflichten nur halbherzig

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