Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
unangenehm berührt, schon lange, bevor sie alt genug war, um zu verstehen, warum.«
»Haben Sie mit Emmas Großmutter über Ihre Beobachtungen gesprochen?«
Sie lachte schroff. »Sie hat mir gesagt, ich sei doch bloß neidisch auf die Aufmerksamkeit, die Emma auf sich zieht. Und mein Vater hat mich dafür bestraft, dass ich Klatsch in Umlauf setze. Eine Woche lang hat er mich ohne Abendessen ins Bett geschickt. Die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen - oder das, was sie erwarten. Daher habe ich es auf mich genommen,
Emma zu beschützen, obwohl ich selbst noch ein halbes Kind war. Dieser Aufgabe habe ich mich nicht gewachsen gefühlt, aber es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte.«
»Und Emma hat Sie als - Beschützerin akzeptiert?«
Sie zuckte die Achseln. »Sie schien mir dankbar dafür zu sein. Oder das sagte sie wenigstens. Wir haben mehr oder minder gegenseitig aufeinander aufgepasst.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Rutledge plump.
»Das geht Sie nichts an«, schnaubte Grace Letteridge ungehalten.
Er glaubte jedoch nur, sich vertan zu haben, als er ihr Alter gleich zu Beginn geschätzt hatte. Da sie selbst noch sehr jung und wehrlos gewesen war und hinter dem, was sie um sich herum beobachtete, vielleicht zu viel vermutet hatte, konnte es gut sein, dass sie sich eingebildet hatte, Emma bräuchte Schutz. In Wirklichkeit könnte es so ausgesehen haben, dass ihre eigene Einsamkeit sie den Umgang mit dem jüngeren Kind suchen ließ und sie sich an Emma geklammert hatte. Alles andere musste besser gewesen sein als zu einem betrunkenen Vater heimzukehren, der sich in seinem eigenen Elend suhlte.
»Warum sind Sie so sicher, dass Constable Hensley Emma Mason umgebracht hat?«, fragte er.
»Er ist immer auf der Straße stehen geblieben, um mit ihr zu reden, und er hat ihr von London erzählt, von Theateraufführungen und von Konzerten - die er wahrscheinlich nie im Leben besucht hat. Oder er hat ihr einen Abend in der Oper geschildert, als er beobachtet hat, wie Seine Majestät mit seiner Gemahlin die königliche Loge betreten hat, und wie der Prinz von Wales eines Morgens mit ihm gesprochen hat, als er im Park ausgeritten ist. Es war erbärmlich, diese Versuche, ihre Aufmerksamkeit gefangen zu nehmen. Und wie er immer wieder auf der Lauer gelegen hat, bis sie kam, und jedes Mal hatte er eine neue Geschichte parat, die er sich ausgedacht hatte, um ihr London schmackhaft zu machen. Und dabei wusste sie ganz
genau, dass ihre Mutter irgendwo dort lebte. Ich habe ihr zugehört, als sie Pläne geschmiedet hat, nach London zu gehen, sowie der Krieg vorbei ist, um ihre Mutter zu finden und in dieser märchenhaften Welt zu leben. Er hatte keine Ahnung, welchen Schaden er angerichtet hat, und es ist möglich, dass es ihm ganz egal gewesen wäre.«
»Das ist eher ein weiterer Grund für Sie, ihn zu töten, als ein Grund für ihn, Emma zu töten.«
»Ah, aber was Sie noch nicht wissen, ist, dass Emma sich verliebt hat. Und das hat Constable Hensley einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich glaube, er hat sie in einem Anfall von rasender Eifersucht getötet.«
Ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte - Grace Letteridge weigerte sich, ihm zu sagen, wer derjenige gewesen war, in den Emma verliebt zu sein glaubte. »Das spielt keine Rolle. Er ist ohnehin tot. Im Krieg gestorben.«
Aber Rutledge erkannte deutlich, dass es eine Rolle spielte, sogar eine sehr große Rolle.
Als er ging, hob Hamish hervor, höchstwahrscheinlich sei Grace Letteridge selbst in diesen Mann verliebt gewesen. Das könnte erklären, warum sie nach London gegangen war und Emma sich selbst überlassen hatte, aber auch, warum sie wieder nach Hause zurückgekehrt war.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass ihr Vater sie ohne Weiteres hätte fortgehen lassen. Es sei denn, er war 1914 bereits tot.«
1914 konnte Grace Letteridge nicht älter als neunzehn gewesen sein. Dann wäre sie jetzt vierundzwanzig. Und Emma musste eine sehr leicht zu beeindruckende Vierzehnjährige gewesen sein.
Rutledge machte sich auf den Weg zum Friedhof und fühlte den kalten Wind in seinem Gesicht, als er das Tor erreichte und eintrat, um sich auf die Suche nach dem Grabstein von Grace Letteridges Vater zu machen.
Der Versuch, unter so vielen Grabsteinen, von denen die meisten mit Moos bewachsen waren und von Flechten überwuchert wurden, einen bestimmten Mann zu finden, war nicht gerade vielversprechend. Aber ein Grab von 1914 würde noch recht
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