Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
und dieses andere Mädel war hübsch.«
Rutledge fragte: »Wo ist Emmas Ausrüstung zum Bogenschießen jetzt?«
»Sie wollen eine wahrheitsgemäße Antwort? Ich habe keine Ahnung, was daraus geworden ist. Und selbst wenn ich es wüsste, müsste ich verrückt sein, wenn ich es Ihnen sagen würde, stimmt’s?«
»Was hat Emma Mason Ihnen bedeutet, wenn Sie so weit gegangen wären, für sie zu töten?«
Sie blickte mitleidig zu ihm auf. »Was Emma mir bedeutet hat? Sie war ein Spiegel meiner selbst. Ohne Mutter aufgewachsen. Bei einer Großmutter, die in einer Welt aus Verstellung und Verleugnung lebt. Nur war in meinem Fall mein Vater derjenige, der den Realitäten des Lebens nicht gewachsen war. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und mein Vater hat sich von Gott betrogen gefühlt. Und daher hat er sich in ein frühes Grab getrunken - der einzige Grund, weshalb er weitergelebt hat, bis ich zwanzig war, war seine eiserne Konstitution, die sich geweigert hat, so schnell aufzugeben. Mrs. Ellison dagegen hat in Emma eine zweite Chance gesehen. Das perfekte
Kind, das sie für den Verlust ihrer Tochter entschädigen würde, ein Kind, das sie nicht so enttäuschen würde wie Beatrice.«
»Sie sprechen sehr freimütig über ihr eigenes Leben.«
»Ich hatte gar keine andere Wahl. Ich bin sehr schnell erwachsen geworden. Angenehm war das nicht, aber ich war nicht bereit, mich davon brechen zu lassen, wie es meinen Vater gebrochen hat.« Sie sah ihm mit erhobenem Kinn trotzig in die Augen.
Hamish sagte: »Gebrochen hat es sie nicht, aber der Schmerz sitzt tief.«
»Ich wollte sagen«, bemerkte Rutledge, »dass Sie sehr freimütig sind. Aber war Emma auch so freimütig? Oder haben Sie in ihre äußeren Lebensumstände mehr hineingelesen, als dort war?«
»Ich habe nichts hineingelesen. Das war nicht nötig. Beatrice war erstaunlich hübsch, und die Leute haben viel Aufhebens um sie gemacht und große Stücke auf sie gehalten, wie das nun mal so ist. Begabt war sie auch - sie konnte wunderbar Klavier spielen und sehr kunstvolle Aquarelle malen. Die sind von ihr.« Grace Letteridge wies auf die Aquarelle an den Wänden. »Sie sind Ihnen gleich aufgefallen, ich habe bemerkt, wie Sie sie angesehen haben. Sie hat sie mir geschenkt, bevor sie das erste Mal aus Dudlington fortgegangen ist. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sie bekommt, denn ihre Mutter war dagegen, dass Beatrice nach London gegangen ist, um Kunst zu studieren. Sie hat es als reine Zeitverschwendung angesehen. Frauen heirateten und bekamen Babys. Das war ihre Pflicht und ihr Lebensinhalt. Bildung war schön und gut, solange sie den Preis der Braut in die Höhe trieb, um es mal so zu sagen. Aber eine Frau, die eine Karriere unter Künstlern anstrebt, das kam überhaupt nicht infrage. Mrs. Ellison war der Ansicht, von dort aus bis zur Prostitution sei es nur noch ein kleiner Schritt.«
»Aber Beatrice Ellison hat geheiratet.«
»Ja, natürlich hat sie das getan, aber sie hat eine schlechte
Wahl getroffen. Er hat sie nicht besonders gut behandelt, und am Ende hat er sie mit einem Kind und ohne Geld und ohne Zukunftsaussichten sitzen lassen. Sie musste ihren Stolz schlucken und Emma hierherbringen, damit sie bei ihrer Großmutter aufwächst. Ich kann verstehen, warum sie nicht in Dudlington bleiben wollte, aber sie wusste doch, wie ihre Mutter ist, und ich empfinde es als äußerst selbstsüchtig von ihr, dass sie ihr Kind so abgeschoben hat.« Sie erhob sich unruhig und trat ans Fenster, um auf die Straße hinauszuschauen. »Sie wollte nicht mit mir reden, als sie nach Hause kam. Sie war unglücklich und nicht mit sich im Reinen. Es war eine schwierige Zeit für sie. Aber Emma ist zu einer Frau herangewachsen, die noch hübscher war als ihre Mutter, und das war das Ärgerliche.«
»Inwiefern ärgerlich?«
»Alle haben viel Wirbel um Beatrice gemacht«, sagte sie und wandte sich vom Fenster ab. »Aber Emma hatte den Charme ihres Vaters geerbt und sie hatte etwas an sich, was die falsche Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hat. Es waren nicht nur alte Frauen, die sich vor Entzücken kaum fassen konnten, sondern auch Männer, die alt genug waren, um ihr Vater, wenn nicht gar ihr Großvater zu sein, haben ihr auf der Straße nachgeschaut oder sind stehen geblieben, um ihr Komplimente zu machen. ›Das ist ein hübsches Kleid, kleines Fräulein.‹ Oder: ›Diese Haarschleife gefällt mir. Wusstest du, dass sie die Farbe deiner Augen hat?‹ Emma hat das
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