Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Stadtrand von Trenton bis Quantico. Er bog vom I-95 auf die nicht ausgeschilderte Straße ab, passierte im Dunkeln die Stützpunkte der Marineinfanterie und wartete vor dem Schlagbaum. Der FBI-Posten richtete eine Taschenlampe auf ihre Gesichter, sah sich ihre Ausweise an, öffnete dann die rot-weiß gestreifte Schranke und winkte sie durch. Vorsichtig rollten sie über die Temposchwellen auf der Fahrbahn, fuhren dann langsam über die leeren Parkplätze und hielten gegenüber der Glastür. In Maryland hatte der Regen aufgehört, und in Virginia war alles trocken.
»Okay«, sagte Harper. »Lassen wir uns den Kopf waschen.«
Reacher nickte und stellte den Motor ab, saß einen Moment lang schweigend da. Dann schauten sie einander an,
stiegen aus und gingen zur Tür. Atmeten tief durch. Doch in dem Gebäude war alles ruhig, fast friedlich. Niemand erwartete sie. Sie fuhren mit dem Aufzug hinab in Blakes unterirdisches Büro, wo er am Schreibtisch saß, eine Hand auf dem Telefon liegen hatte und in der anderen ein zerknülltes Fax hielt. Der Fernseher lief ohne Ton – offenbar ein Nachrichtensender, denn auf dem Bildschirm hockten etliche Männer in Anzügen um einen riesigen Tisch. Blake schaute nicht hin. Er starrte vielmehr mit verständnisloser Miene auf einen Fleck auf seinem Schreibtisch, der sich etwa auf halber Höhe zwischen dem Telefon und dem Fax befand. Harper nickte ihm nur zu, und auch Reacher sagte kein Wort.
»Ein Fax von UPS«, begann Blake. Er klang freundlich, beinahe gütig, wirkte jedoch verwirrt, hilflos, als wüsste er weder ein noch aus.
»Raten Sie mal, wer Alison Lamarr die Farbe geschickt hat«, sagte er.
»Lorraine Stanley«, erwiderte Reacher.
Blake nickte.
»Richtig«, sagte er. »Abgesandt aus einer kleinen Stadt in Utah. Bei der Absenderadresse handelt es sich um ein Lagerhaus für Privatkunden, die dort ihre Habseligkeiten unterstellen können. Und raten Sie mal, was es noch gibt!«
»Sie hat sämtliche Lieferungen verschickt.«
Blake nickte erneut. »Bei UPS sind elf Aufträge mit fortlaufenden Nummern eingegangen, und immer handelte es sich um die gleichen Kartons, die an elf verschiedene Empfänger ausgeliefert wurden, unter anderem auch an Stanley selbst, an ihren Wohnsitz in San Diego. Und raten Sie mal, wie es weitergeht!«
»Wie denn?«
»Sie besaß noch nicht mal ein eigenes Haus, als sie die Farbe dort eingelagert hat. Sie ließ sich noch über ein halbes Jahr Zeit, ehe sie sich einen festen Wohnsitz suchte, und
anschließend ist sie nach Utah zurückgekehrt und hat sämtliche Sendungen losgeschickt. Was halten Sie denn davon?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Reacher.
»Ich auch nicht«, sagte Blake.
Dann nahm er den Hörer ab. Starrte ihn einen Moment lang an und legte ihn wieder auf.
»Außerdem hat Poulton gerade angerufen«, fuhr er fort. »Aus Spokane. Raten Sie mal, was er zu sagen hatte!«
»Was?«
»Er hat gerade den UPS-Fahrer vernommen. Der Mann konnte sich ziemlich gut an alles erinnern. Ein abgelegenes Haus, ein schwerer Karton, genau wie ich vermutet hatte.«
»Und?«
»Alison war daheim, als er dort ankam. Sie hörte sich das Baseballspiel an, in der Küche am Radio. Sie bat ihn herein, gab ihm einen Kaffee, und dann hörten sie sich diesen Grand-Slam gemeinsam an. Sie jubeln ein bisschen, führen einen kleinen Freudentanz auf, trinken noch einen Kaffee, und er erklärt ihr, dass er einen schweren Karton für sie hat.«
»Und?«
»Und sie sagt: Oh, gut . Er geht wieder hinaus, transportiert ihn mit einer Sackkarre von der hydraulischen Heckklappe in die Garage, wo sie unterdessen Platz gemacht hat, und lädt ihn ab. Und sie strahlt die ganze Zeit.«
»So als hätte sie ihn erwartet?«
Blake nickte. »Das war jedenfalls sein Eindruck. Und was macht sie danach?«
»Was?«
»Sie reißt den Umschlag mit den Frachtpapieren ab und nimmt ihn mit in die Küche. Er kommt ebenfalls mit, weil er seinen Kaffee austrinken will. Sieht, wie sie den Lieferschein aus der Plastikhülle zieht, in lauter kleine Fetzen zerreißt und in den Müll wirft, desgleichen den Umschlag.”
»Warum?«
Blake zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Aber dieser Mann hat vier Jahre bei UPS gearbeitet, und er sagt, er hätte etwa sechzig Prozent aller Sendungen beim Empfänger persönlich abgeliefert, aber so etwas hätte er noch nie erlebt.«
»Kann man sich auf ihn verlassen?«
»Poulton meint, ja. Sagt, er ist ein solider Typ, klug, kann sich gut ausdrücken
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