Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
vermutete, dass sie mit dem Typ gevögelt hatte, obwohl sie ihn angezeigt hatte und er eingebuchtet worden war, was die Sache völlig hanebüchen machte. Letzten Endes konnte sie das Getuschel nicht mehr ertragen und quittierte den Dienst.«
»Und was macht sie jetzt?«
»Nichts. Sie bemitleidet sich selbst ein bisschen.«
»Stehen Sie ihr nahe?«
Sie zögerte.
»Nicht sehr, um ehrlich zu sein«, sagte sie. »Nicht so nahe, wie ich es vielleicht möchte.«
»Mögen Sie sie?«
Lamarr verzog das Gesicht. »Natürlich. Sie ist sehr liebenswürdig. Genau genommen, ist sie ein großartiger Mensch. Aber ich habe Fehler gemacht, von Anfang an. Habe es falsch angepackt. Ich war jung, mein Vater war tot, und wir waren bettelarm, als sich dieser reiche Typ in meine Mutter verliebte und mich schließlich adoptierte. Ich habe mich dagegen gewehrt, dass ich sozusagen gerettet werden sollte, nehme ich an. Folglich dachte ich mir, ich müsste sie nicht lieben. Sie ist ja nur meine Stiefschwester .«
»Sind Sie nie drüber weggekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Meine Schuld, ich gebe es zu. Meine Mutter ist früh gestorben, und danach kam ich mir ein bisschen einsam vor, fühlte mich nicht recht wohl in meiner Haut. Ich konnte gut damit umgehen. Daher ist meine Stiefschwester für mich im Grunde genommen nur eine nette Person, die ich zufällig kenne. Eine Art gute Bekannte. Ich glaube, es geht uns beiden so. Aber wir kommen einigermaßen miteinander aus, wenn wir uns sehen.«
Er nickte. »Wenn sie aus reichem Hause stammt, sind Sie dann auch reich?«
Sie warf einen Blick zur Seite. Lächelte. Die schiefen Zähne leuchteten kurz auf.
»Wieso?«, wollte sie wissen. »Mögen Sie reiche Frauen? Oder sind Sie vielleicht der Meinung, reiche Frauen sollten nicht berufstätig sein? Oder Frauen generell?«
»Ich wollte mich nur unterhalten.«
Sie lächelte wieder. »Ich bin reicher, als Sie denken. Mein Stiefvater besitzt einen Haufen Geld. Und er ist sehr gerecht zu uns beiden, obwohl ich eigentlich gar nicht seine Tochter bin, sie aber schon.«
»Da haben Sie Glück.«
Sie zögerte.
»Und bald werden wir noch viel reicher sein«, fuhr sie fort. »Leider. Er ist schwer krank. Er kämpft schon seit zwei Jahren gegen den Krebs. Ein zäher Bursche, aber demnächst
wird er sterben. Uns steht also eine große Erbschaft bevor.«
»Tut mir Leid, dass er krank ist«, sagte Reacher.
Sie nickte. »Ja, mir auch. Es ist ein Jammer.«
Danach herrschte Stille.
»Haben Sie Ihre Schwester gewarnt?«, fragte Reacher.
»Meine Stiefschwester.«
Er warf ihr einen Blick zu. »Warum betonen Sie ständig, dass sie Ihre Stiefschwester ist?«
Sie zuckte die Achseln. »Weil Blake mich abzieht, wenn er glaubt, dass ich die Sache zu persönlich nehme. Und ich möchte nicht, dass es dazu kommt.«
»Nicht?«
»Natürlich nicht. Wenn jemand, der einem nahe steht, in Schwierigkeiten steckt, will man sich doch selbst darum kümmern, oder?«
Reacher wandte den Blick ab.
»Allerdings«, sagte sie.
Sie schwieg einen Moment.
»Und außerdem ist mir diese familiäre Beziehung sehr peinlich«, erklärte sie. »All die Fehler, die ich gemacht habe, lassen mir keine Ruhe. Als meine Mutter starb, hätten sie mich einfach enterben können, aber sie haben es nicht getan. Beide behandeln mich nach wie vor anständig, in jeder Hinsicht. Sie sind sehr liebenswürdig, sehr großzügig, sehr gerecht, und je mehr sie sich darum bemühen, desto mehr Vorwürfe mache ich mir, weil ich mir am Anfang wie ein Aschenputtel vorgekommen bin.«
Reacher sagte nichts.
»Jetzt halten Sie mich vermutlich wieder für irrational«, sagte sie.
Er schwieg nach wie vor.
»Aschenputtel«, sagte sie. »Obwohl Sie mich vermutlich eher als die hässliche Schwester bezeichnen würden.«
Er ging nicht darauf ein.
»Wie auch immer. Haben Sie sie gewarnt?«, fragte er noch mal.
Sie warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu, und er stellte fest, dass sie allmählich wieder in die Gegenwart zurückfand.
»Ja, natürlich habe ich sie gewarnt«, erwiderte sie. »Sobald uns mit Cookes Tod die Zusammenhänge klar wurden, habe ich sie ein ums andere Mal angerufen. Sie sollte halbwegs in Sicherheit sein. Sie verbringt viel Zeit bei ihrem Vater im Krankenhaus, und außerdem habe ich ihr gesagt, sie soll niemanden einlassen, wenn sie zu Hause ist. Keinen Menschen, absolut niemanden, egal, um wen es sich handelt.«
»Hält sie sich daran?«
»Dafür habe ich
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