Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Reacher, er hätte sich eine bessere Möglichkeit einfallen lassen, die Zeit totzuschlagen. Wenn das so weiterging, war er vierzehn Stunden in der Luft, alles an einem Tag. Vielleicht hätte er lieber in Washington bleiben und mit Lamarr die Unterlagen durchgehen sollen. Er stellte sich vor, wie er irgendwo in einem ruhigen Zimmer saß, einer Art Bibliothek, in einen Ledersessel gefläzt, vor sich einen Stapel Akten. Dann hatte er wieder Lamarr vor Augen, worauf er einen kurzen Blick zu Harper warf und zu dem Schluss kam, dass er letzten Endes doch die richtige Wahl getroffen hatte.
Der Flugplatz von Spokane war ganz ordentlich, ziemlich modern und größer, als er gedacht hatte. Auf dem Vorfeld erwartete sie ein Dienstwagen des FBI, der selbst aus tausend Fuß Höhe deutlich zu erkennen war – eine auf Hochglanz polierte dunkle Limousine, an deren Kotflügel ein Mann in einem Anzug lehnte.
»Von der Dienststelle in Spokane«, sagte der Agent aus Seattle.
Der Wagen rollte zu der Maschine, und knapp zwanzig Sekunden nachdem der Pilot die Motoren abgestellt hatte, waren sie unterwegs. Der Typ von der hiesigen Dienststelle hatte das Reiseziel auf einem Block notiert, der mit einem Gummisaugknopf an der Windschutzscheibe befestigt war. Anscheinend wusste er, wie er dort hinkam. Er fuhr zehn Meilen nach Osten, in Richtung Idaho, und bog dann auf eine schmale Straße ab, die nach Norden ins Bergland führte. Das Gelände stieg sanft an, aber in nicht allzu weiter Ferne ragte ein mächtiges Gebirgsmassiv mit schneeweiß schimmernden Gipfeln auf. Ab und zu standen Häuser am Straßenrand, jedes gut und gern eine Meile vom nächsten entfernt, dazwischen lagen dichter Wald und weitläufige Wiesen. Die Gegend war erschreckend dünn besiedelt.
Ihr Zielort hätte das Wohngebäude einer alten, längst aufgegebenen Ranch sein können, die verkauft und von jemandem renoviert worden war, der vom Leben auf dem Land träumte, aber nicht von seinem in der Stadt geprägten Geschmack und Stilgefühl ablassen wollte. Es stand auf einem kleinen Grundstück, umgeben von einem neu errichteten Viehzaun und üppigem, frisch gemähtem Zierrasen, der jenseits des Zauns in offenes Weideland überging. Rundum ragten vom Wind verkrüppelte Bäume auf. Die Auffahrt, von der ein schmaler Fußweg zur Eingangstür abzweigte, führte zu einer kleinen Scheune mit einem nachträglich eingebauten Garagentor an der Seite. Das ganze Anwesen wirkte wie ein typisches Eigenheim im Grünen, irgendwo am Stadtrand, dicht an der Straße gelegen und auf allen Seiten an Nachbargrundstücke grenzend, nur dass es hier weit und breit keine Nachbarn gab. Die nächste menschliche Ansiedlung war mindestens eine Meile entfernt, nach Osten oder Westen hin vielleicht sogar zwanzig Meilen.
Die beiden einheimischen Agenten blieben im Wagen sitzen, während Harper und Reacher ausstiegen, auf dem Bankett stehen blieben und sich reckten. Dann wurde hinter ihnen der Motor abgestellt, und mit einem Mal nahmen sie die atemberaubende Stille in diesem weiten, menschenleeren Landstrich wahr. Eine Stille, in der ihnen förmlich die Ohren klangen.
»Mir wär’s lieber, wenn sie in einem Apartment in der Stadt wohnen würde«, sagte Reacher.
Harper nickte. »Mit einem Portier.«
Hier war nicht einmal ein Tor vorhanden. Der Zaun endete einfach zu beiden Seiten der Einfahrt. Gemeinsam gingen sie auf das Haus zu. Die Auffahrt war mit Schieferplatten gepflastert. Wenigstens einigermaßen laut, dachte Reacher. Er lauschte auf den leichten Wind, der durch die Stromleitungen strich. Harper blieb vor der Haustür stehen.
Es gab keinen Klingelknopf, nur einen eisernen Klopfer, einen Löwenkopf, der einen Ring im Maul hatte. Darüber befand sich ein Guckloch, das offenbar neu war, dem rohen Holz rundum und der beim Bohren abgeblätterten Farbe nach zu schließen. Harper ergriff den Eisenring und klopfte zweimal. Laut und dumpf hallten die Schläge über das Weideland und wurden Sekunden später von den umliegenden Hügeln zurückgeworfen.
Nichts rührte sich. Harper klopfte noch mal. Wieder ein dröhnender Schlag. Sie warteten. Drinnen knackten Dielenbretter. Dann näherten sich Schritte, hielten hinter der Tür inne.
»Wer ist da?« Eine Frauenstimme, bang und zaghaft.
Harper griff in die Tasche und zückte ihre Dienstmarke. Es war die gleiche, in ein Lederetui geknöpfte goldene Plakette, mit der Lamarr an Reachers Autofenster geklopft hatte. Oben der Adler mit dem zur Seite gewandten
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