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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Jungen am Arm und nutzte seinen Körperschwung, um ihn zum Strand zu ziehen. Mit aller Kraft verdrehte er den Arm in seiner Hand, spürte, wie der junge Muskel, die Sehne, der Knochen dem Druck entgegenwirkten, und dachte einen Moment lang daran, ihn zu brechen. Er stellte sich das satte Knacken vor, das Erstaunen in Eds Gesicht, das aufsteigende Triumphgefühl. Doch weil er aus der Ferne seine Gäste hörte, lockerte er den Griff ein wenig und brachte sein Gesicht so nah an das von Ed, wie er nur konnte. In dem kleinen Zwischenraum, der sie noch voneinander trennte, roch er seine eigene Fahne.
    »Hör mir gut zu!«, sagte er keuchend. Seine Kopfhaut juckte vom Schweiß. »Ich kenne dich. Ich weiß, was du bist.« Er versuchte, ruhiger zu atmen. »Und wie ich das weiß!« Wieder zerrte er brutal am Arm des Jungen. »Jetzt sage ich dir Folgendes: Wenn du noch einmal auch nur in die Nähe meiner Frau kommst, wenn du noch einmal meine Tochter so ansiehst wie heute Abend, wenn du auch nur von fern einen Blick auf die beiden wirfst, der mir nicht passt, dann warte ich irgendwann, bis du nachts schläfst, und gehe in dein Zimmer und breche dir das Genick. Und dann erzähle ich allen, du wärst beim Schlafwandeln die Treppe hinuntergeflogen.« Hughes glaubte, einen Funken Zweifel in den Augen des Jungen zu sehen, ein seitliches Abgleiten der Pupillen, als würde er die Drohung abwägen. »Haben wir uns verstanden?«
    Ed zuckte kaum merklich zusammen, eine winzige Bewegung zwischen Mund- und Augenwinkel. Offenbar tat er ihm weh. Er richtete sich auf, um ihn, jetzt, nachdem alles gesagt war, loszulassen, aber da kam Ed näher und führte den Mund an Hughes’ Ohr.
    »Das waren Nachforschungen«, flüsterte der Junge. »Frank Wilcox und das Mädchen. Meine Mutter und Mr. Fox. Tante Nick und der Trompetenspieler. Ich habe sie gesehen.«
    Alle Kraft wich aus Hughes. Seine Haut begann zu kribbeln. Er hörte den Atem des Jungen, während er schwieg.
    »Ich hab es dir gesagt«, fuhr Ed fort. »Keiner sagt, was er wirklich denkt. Nichts ist wahr.« Der Junge trat einen Schritt zurück und sah Hughes an, als wollte er ihm unbedingt etwas klarmachen. »Ich glaube – wissen tue ich es noch nicht, aber ich glaube –, die packen das alle ganz falsch an.«
    Hughes konnte keinen Gedanken mehr fassen. Er ließ den Arm des Jungen los. Ed streckte sich und rieb die Stelle, an der Hughes ihn festgehalten hatte. Er musterte Hughes’ Gesicht, als suchte er etwas darin, nickte kaum wahrnehmbar und ging langsam weg, zurück zur Party. Hughes stand da wie festgenagelt. Er hörte Menschen lachen. Er sah die Lichter der Boote im Hafen, als würden sie ihm zublinzeln, und hörte das Klickern der Masten in der Ferne. Die Trompete schmetterte ihre Töne in die Nacht hinaus. Er schloss die Augen.
    Er wusste nicht, wie lange er so dastand, innerlich ganz weich und leer, ohne etwas zu denken. Irgendwann machte er kehrt und wandte dem Wasser den Rücken zu. Im Bootshaus brannte eine Laterne. Er ging hin. Auf dem Boden saß Daisy, den Kopf in Nicks Schoß. Das Haar seiner Frau war noch feucht vom Duschen, aber sie trug ihr Abendkleid, und die Goldfäden glitzerten im Lampenlicht.
    Unbemerkt lehnte er sich an die Wand und lauschte.
    »Das ist mir egal«, sagte Daisy. »Ich hasse sie alle.«
    »Liebling!« Nicks Stimme klang freundlicher, sanfter als sonst, wenn sie mit ihrer Tochter sprach. »Hör mir zu. Ich sage dir das, weil es vielleicht eines Tages sehr wichtig für dich ist, daran zu denken. Wenn eines sicher ist im Leben, dann das: Du wirst nicht immer den richtigen Menschen küssen.«
    Hughes sah zum Himmel hinauf, und aus seinem Mund drang ein sonderbarer Klagelaut, dessen er sich nie für fähig gehalten hätte. Er fuhr sich über die Augen, straffte den Rücken und stieß sich mit den Handflächen von den rauhen Brettern des Bootshauses ab.
    Er ging zur Tür, trat in das beleuchtete Innere und spürte den Schein der Laterne auf seiner feuchtkalten Haut. Daisys kleines, tränenüberströmtes Gesicht sah vom Schoß ihrer Mutter zu ihm auf, und Nick lächelte ihn zart und verschwörerisch an.
    »Hier seid ihr!«, sagte Hughes. »Hatte ich’s mir doch gedacht. Meine beiden Lieblinge – was bin ich froh!«

[home]
    Ed
    Juni 1964
    S o steht mir Daisy vor Augen: Es ist Frühsommer, und wir sind auf der Veranda von Tiger House. Es dämmert schon, ich bin gerade aus dem Krankenhaus in der Stadt zurückgekommen, wo ich meine Mutter besucht habe. Sie

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