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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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wollte zum Bootshaus hinuntergehen und sich kurz abkühlen.«
    Die Band hatte eine Pause eingelegt, so dass nur noch Gelächter und summendes Stimmengewirr die Nacht erfüllten. Hughes blinzelte zum Steg und zu dem schmalen Streifen Strand hinüber, um zu sehen, ob Nick dort gerade die Zehenspitzen ins Wasser tauchte. Das tat sie manchmal, wenn sie zu viel getrunken hatte; es mache nüchtern, behauptete sie.
    »Die Zehen sind sehr empfindlich, weißt du«, sagte sie immer. »Die meisten Leute beachten sie gar nicht, aber sie sind tagtäglich unser erster Kontakt mit dem Boden. Wie Antennen.«
    Hughes dachte an all die Kleinigkeiten, ihre kleinen Einfälle, Hunderte, Tausende, genug, um ganze Tage damit anzufüllen. Wie hatte ihm das alles entgehen können? Er dachte noch einmal an ihre Behauptung, der Mord habe alles kaputt gemacht. Er wusste, wie sie es meinte, aber sie irrte sich. Nichts hatte sich verändert, zumindest nichts Grundlegendes. Nur musste man sich, wenn so etwas passierte, für eine Seite entscheiden. Und wenn die eigenen Freunde im Spiel waren, musste man dabei lächeln und tun, als wäre man derselben Meinung. Das war das Schwierige daran, die Anspannung durch das Heucheln und das vorgespielte Einvernehmen. Hughes begann zu ahnen, dass er es besser beherrschte, sich für keine Seite zu entscheiden. Eva hatte er wie eine Rüstung getragen, die ihn vor Nick und vor der Möglichkeit schützen sollte, dass er nicht der war, der er sein wollte. Und sie war die ganze Zeit da gewesen und hatte gewartet wie etwas in Bernstein Eingeschlossenes.
    Jemand zog ihn heftig am Ärmel. Als er sich umdrehte, stand Daisy mit flackerndem Blick vor ihm.
    »Wo ist Mummy?«, fragte sie mit piepsiger Stimme. Sie klang verzweifelt.
    »Daisy.« Er packte sie an der Schulter. Ihm wurde angst und bang. »Was ist denn?«
    »Wo ist Mummy? Ich muss zu Mummy.«
    »Ich weiß es nicht, Schätzchen.« Er blickte noch einmal über den Rasen. »Ich glaube, sie wollte kurz zum Bootshaus, sich ein bisschen abkühlen.«
    Seine Tochter entwand sich seinem Griff und rannte zum Hafen hinunter. Er rief sie, aber sie drehte sich nicht um. Aus irgendeinem Grund fiel ihm wieder das klingelnde Telefon in der Traill Street ein, der kalte Hörer an seinem Ohr. Er zögerte kurz; dann lief er Daisy nach, drängte sich an den in Grüppchen stehenden Gästen vorbei, ohne darauf zu achten, dass sie ihn riefen.
    Er lief zur Rückseite des Bootshauses. Von dort konnte er die Außendusche erkennen, deren Umrisse sich gegen den Himmel abzeichneten. Durch die Rohre rauschte Wasser. Das bedeutete, dass Nick unter der Dusche stand und dass sie betrunken war.
    Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah er noch jemanden: Ed. Er stand dicht an die Holzlatten gepresst und spähte hinein. Hughes erstarrte. Er spürte das Adrenalin ins Blut schießen, spürte, wie die Muskeln sich anspannten, wie ihm eng um die Brust wurde. Dann kam plötzlich Daisy vom Steg her und blieb abrupt stehen. Sie murmelte etwas, das nach Merksprüchen aus der Sonntagsschule klang, und als Ed es hörte, drehte er sich um. Hughes wusste, dass er hingehen sollte, irgendetwas tun musste, aber seine Beine waren bleischwer.
    Die beiden Kinder sahen jetzt einander an, als verständigten sie sich in einer lautlosen Geheimsprache. In der Dusche begann Nick zu singen, eine einschmeichelnde Melodie, die die Band zuvor gespielt hatte.
    Und dann rief Daisy ihre Mutter.
    Hughes hörte Ed sagen: »Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen.«
    Er spannte die Muskeln an und wand sich innerlich.
    »Doch nach einer Weile sind sie wieder heile«, sagte Daisy leise.
    Ed legte den Kopf schief, genauso wie damals, nachdem Hughes ihn geschlagen hatte.
    »Warum siehst du meiner Mutter zu, Ed Lewis? Bist du ein Lustmolch? So einer wie Mr. Wilcox?«
    »Hör auf mit Mr. Wilcox!« Die Stimme des Jungen klang hart und gepresst, aber es fehlte der spöttische Unterton, den er Hughes gegenüber angeschlagen hatte. Es wirkte eher defensiv oder gekränkt; Hughes konnte es nicht genau benennen.
    »Diese Streichhölzer, die vom Hideaway …«
    Das Hideaway, die Streichhölzer, der Sheriff. Als wäre ein Schnappschloss eingerastet, lockerten sich Hughes’ Muskeln, und er rannte los.
    »Weg von ihm, Daisy!«
    Als sie seine Stimme hörte, trat seine Tochter sofort einen Schritt zurück. Ed drehte sich um und sah ihn an. Er schien fast froh zu sein, so als hätte er auf ihn gewartet. Hughes packte den

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