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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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weiß es. Und es tut mir leid.«
    Daisy schwieg, als würde sie nachdenken. »Du weißt wirklich nicht, worum es geht?«, fragte sie schließlich. »Bist du ehrlich?«
    »Ja«, sagte Tante Nick. »Ich weiß nicht, was ich getan haben soll. Bitte sag es mir!«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Daisy langsam. »Ich weiß nicht, was ich geglaubt habe.«
    »Mein Liebling!«
    Ich wagte mich ganz langsam ein Stück vor und spähte um die Ecke.
    Tante Nicks Hand lag auf der Stufe zwischen Daisy und ihr, als wollte sie ihre Tochter berühren, traute sich aber nicht recht. Daisy hielt den Kopf gesenkt und starrte auf ihre Füße.
    »Ich weiß einfach nicht, ob ich durchdrehe oder ob du … Vielleicht ist es wegen der Hochzeit. Die Nerven, ich weiß nicht«, sagte Daisy. »Wenn es so ist, dann tut es mir leid. Dann tut es mir leid, dass ich das alles gesagt habe.« Sie stand auf und wollte gehen, blieb dann jedoch abrupt stehen. »Aber falls es nicht an mir liegt und er recht hat …« Ihre Stimme erstarb, sie blickte auf den Hafen hinaus. »Ich will, dass das aufhört, Mutter. Du musst damit aufhören.«
    Tante Nick sah sie kopfschüttelnd an, eine Geste irgendwo zwischen Bestürzung und Zustimmung.
    Aber ich wusste, dass sie nicht aufhören würde, selbst wenn sie wollte. Sie konnte nicht.
    Auf dem Weg zurück zum Haus lag mir etwas Schweres auf der Brust. Als ich das Eingangstor öffnete, sah ich meine Mutter auf der Veranda stehen. Ich ging zu ihr, und sie nahm meine Hand. Es erschreckte mich, weil sie mich nur selten berührte.
    »Ed«, sagte sie, »ich habe auf dich gewartet. Ich wollte dir etwas erzählen, etwas von früher, etwas über Daisy und deine Tante Nick.«
    Sie hatte Angst.
    »Ich habe gehört, was du Daisy über Tyler erzählt hast. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich dir da einen falschen Eindruck vermittelt. Ich will nicht, dass du dich in eine Lage bringst, die …« Sie schwieg.
    Ich entzog ihr meine Hand und tätschelte ihr die Schulter, so wie Onkel Hughes es kurz zuvor getan hatte. »Es ist alles in Ordnung, Mutter«, sagte ich. »Mach dir keine Gedanken! Alles ist gut.«
    Aber ich fühlte mich nicht gut. Das Haus hatte etwas Erstickendes, und ich beschloss, spazieren zu gehen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich ging eine Weile auf unserem Strandabschnitt hin und her und dachte nach. Ich wusste, was zu tun war, aber zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich unvorbereitet. Ich zauderte, und das war gefährlich – genauso gefährlich, wie in das Haus von Frank Wilcox einzusteigen, ohne es vorher in Augenschein genommen zu haben.
    Ich lauschte den Nebelhörnern. Sie klangen schwermütig. Ich dachte an Daisy, sah sie dastehen, die Hand am Herzen, überrascht, mich zu sehen. Ich dachte daran, dass sie mich immer Ed Lewis nannte und immer aufstampfte, wenn sie wütend war. Dass sie, als wir größer wurden, die Einzige gewesen war, die wirklich mit mir redete, die Einzige, die mich wirklich sah.
    Ich wusste nicht, wie lange ich dort draußen gewesen war, aber als ich schließlich wieder vor dem Haus stand, sah ich Tante Nick und Onkel Hughes im Wohnzimmer sitzen und trinken. Sie saßen ganz dicht beieinander auf dem Sofa, und von der dunklen Straße aus hätte man meinen können, sie leuchteten. Die Lampe im Zimmer war das einzige Licht, das noch brannte. Die anderen mussten alle schon schlafen gegangen sein.
    Ich stieg über das Eingangstor und leise die Stufen zur Veranda hinauf. Ich wollte hineingehen und die Atmosphäre erkunden, doch das Gespräch der beiden brachte mich davon ab.
    »Was hat sie gesagt?«, fragte Onkel Hughes.
    »Sie …« Tante Nick unterbrach sich. »Sie glaubt, dass ich etwas getan habe.«
    »Was denn?«
    »Hughes, ich muss dir etwas sagen.«
    »Was denn, um Himmels willen?«
    »Es macht mich noch verrückt! Ich will Daisy nicht weh tun und dir auch nicht – keinem! Ich war nicht ehrlich …«
    Onkel Hughes sah erst sie an, dann seine Hände. Er schwieg kurz, dann sagte er: »Nick, du musst mir nichts erklären.«
    »Du weißt ja nicht, was es ist.« Ihr Blick wanderte über sein gesenktes Gesicht.
    »Vielleicht weiß ich es, vielleicht auch nicht. Aber es ist egal. Ich kenne dich. Ich weiß, wozu du fähig bist und wozu nicht. Und zu Grausamkeit bist du nicht fähig.«
    »Liebling …«
    »Ich liebe dich, Nick«, sagte er schlicht. »Und ich glaube nicht, dass du jetzt irgendetwas tun oder sagen könntest, was daran etwas ändern würde.« Er hob den Kopf. »Deshalb

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