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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Gesichtsmuskeln arbeiten. Schließlich wandte sie sich ab.
    »Ich ziehe mich mal um«, sagte sie.
    »In Ordnung, Liebling«, sagte Tante Nick, aber Daisy hatte den Raum schon verlassen.
    Tante Nick hatte recht gehabt: Die Flundern waren köstlich. Ich fand es gut, dass sie die Haut dranließ, so dass ich sie mit der Gabel abheben und das weiße Fleisch zum Vorschein bringen konnte. Ich aß sogar ein bisschen von der Haut; sie war knusprig und salzig und hatte das ganze Aroma der Gewürze in sich aufgenommen.
    Tante Nick sprach über den 4. Juli und schlug ein Familienpicknick vor. Dann erzählte Onkel Hughes die Geschichte, wie deutsche Flieger in der Silvesternacht London bombardierten und er dachte, es wäre das Feuerwerk. Meine Mutter war ungewöhnlich still, und Tyler war ganz mit seinem Fisch beschäftigt.
    Nach dem Essen entschuldigte sich Daisy so unvermittelt, dass die Beine ihres Stuhls laut über den Holzboden schrammten.
    »Ich sehe mal nach ihr«, sagte Tante Nick wenige Sekunden später.
    Tyler wollte auch aufstehen, aber sie befahl ihm leise und sehr schroff: »Du bleibst hier!«
    Meine Mutter erhob sich und begann das Geschirr wegzuräumen.
    »Komm, ich helfe dir«, sagte Onkel Hughes und klopfte ihr auf den Rücken.
    Tyler und ich saßen einander gegenüber. Er sah mich an, und ich sah ihn an. Ich konnte es ihm vom Gesicht ablesen: Er wusste, dass ich es wusste. Meine Hand zuckte. Ich stand schnell auf, bevor ich irgendetwas Unüberlegtes tat, und ging in die Richtung, die Daisy und Tante Nick eingeschlagen hatten.
    Von der Veranda aus sah ich Tante Nick die Straße überqueren und vor ihr Daisys kleinere Gestalt, die auf dem Rasen ins Dunkel hinunterging. Ich behielt den Abstand bei und blieb dicht am Zaun auf der anderen Seite. Sie gingen zum Bootshaus. Ich folgte ihnen, an der Außendusche vorbei.
    Auf dieser Seite des Bootshauses war die Luft wegen des Ablaufs feucht; ich hörte den Duschkopf tropfen und fühlte das matschige Gras unter meinen Füßen. Die Sohlen machten ein Sauggeräusch, was nicht gerade ideal war. Knapp vor der Front des Bootshauses blieb ich stehen und lauschte. Hinter der Ecke brannte Licht. Offenbar hatte Daisy eine Petroleumlampe angezündet.
    Sie saß auf der schmalen Treppe, und Nick saß neben ihr. Beide schwiegen.
    Ich zog den Kopf zurück und lehnte mich an die Seitenwand. Das rauhe Holz der Bretter bohrte sich in meine Schulterblätter.
    Nach einiger Zeit begann Tante Nick zu sprechen.
    »Was ist los, mein Liebling?«
    Daisy gab keine Antwort.
    »Egal, was es ist, ich finde, du solltest es mir sagen. Geht es um die Hochzeit?«
    »Weißt du noch«, sagte Daisy schließlich, »wie du mir mal gesagt hast, wenn eines im Leben sicher ist, dann, dass ich nicht immer den richtigen Menschen küssen werde?«
    »Ja, ich erinnere mich.«
    »Wir saßen damals dadrin. Und du hast meinen Kopf gestreichelt.«
    »Ja.«
    »Aber du hast damals von dir selbst gesprochen, stimmt’s? Es ging überhaupt nicht um mich.«
    »Daisy.«
    »Nein, nein, sag nichts, Mummy! Ich sehe es jetzt alles ganz deutlich. Es ging immer nur um dich. Alles. Ich existiere doch gar nicht für dich. Keiner von uns existiert für dich.«
    »Du existierst sehr wohl für mich, Daisy. Ich weiß, dass ich nicht die allerbeste Mutter war. Aber du existierst für mich, und ich liebe dich. Was soll das Ganze?«
    »Mein Gott, Mummy, wie kannst du sogar das noch sagen, ohne eine Miene zu verziehen?«
    »Was soll das heißen? Sag es mir, Daisy!« Tante Nicks Stimme klang steinhart.
    »Was das heißen soll? Alles, alles! Du interessierst dich für niemanden außer für dich selbst. Immer schon.« Daisy stieß die Worte leise keuchend wie ein erschöpftes Tier aus. »Mein ganzes Leben warst du nie auf meiner Seite. Du warst eifersüchtig und hart und kalt … Jedes kleinste bisschen Liebe von Daddy … Und weil du das von ihm nicht kriegen kannst, hast du …«
    »Ich habe was? Ich habe was, Daisy?«
    Daisy antwortete nicht.
    Nach einer Weile begann Tante Nick wieder zu sprechen, diesmal mit weicherer Stimme. »Ich kann dir das nicht alles erklären, mein Schatz. Ich kann dir nicht von einem ganzen Leben voller Fehler und verpasster Chancen erzählen, und alles, was ich wollte, war … Ich wollte einfach nie gewöhnlich sein. Vielleicht bin ich dadurch anders geworden als andere, härter. Aber eine Familie … Es ist kompliziert. Ich weiß nicht, wie es so gekommen ist, aber ich weiß, ich habe dir oft weh getan. Ich

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