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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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brauchst du mir nichts zu erklären. Was ich wissen muss, weiß ich bereits.«
    »Ach, Hughes.« Tante Nick legte die Hand an sein Gesicht. »Du hast ja keine Ahnung. Ich habe uns alle so kaputt gemacht.«
    »Wir haben uns alle gegenseitig kaputt gemacht«, erwiderte Onkel Hughes. »Aber irgendwann musst du mir einfach vertrauen, hast du verstanden?«
    »Ja.« Tante Nick schüttelte den Kopf. »Ich dachte immer, unser Leben wäre … Mein Gott, ich habe mich so geirrt. Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber ich beobachte jemanden, jemanden, der mich daran erinnert, was für ein gottverdammter kleiner Idiot ich war.« Sie lachte leise, als hätte sie den feinsinnigsten Witz der Welt erzählt. »Wahrscheinlich ist die Ehe wie Klippenspringen. Man darf einfach nicht die Nerven verlieren.«
    Mir gefiel das Gespräch nicht. Etwas an Tante Nicks Art, an ihrer Stimme verwirrte mich. Ich hatte das Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen, und das störte mich. Ich musste aufhören zu denken. Ich musste die Sache über die Bühne bringen – und fertig. Ich atmete durch, ging ins Haus und ließ die Tür hinter mir zuknallen.
    Als ich das Wohnzimmer betrat, stand auf der Bar ein Krug mit frischem Wodka-Martini. Das war schon mal gut. Wenn sie betrunken waren, vereinfachte das die Sache.
    »War nur kurz spazieren«, sagte ich. »Ich wollte gute Nacht wünschen.«
    »Gute Nacht, Ed«, sagte Onkel Hughes. Ich sah ihm an, dass er sich fragte, ob ich sie belauscht hatte.
    »Gute Nacht«, sagte Tante Nick. Sie wirkte ungemein angespannt.
    Ich ging zu ihr, beugte mich hinunter und küsste sie auf die Wange. Ihre Haut war weich und kühl, und ich roch ihr Parfum und die Wodkafahne. »Gute Nacht, Tante Nick«, sagte ich. Dann verzog ich mich nach oben in mein Zimmer und wartete.
    Ich lag da und starrte die Decke an. Eine Stunde verging, vielleicht auch weniger, dann hörte ich Onkel Hughes heraufkommen. Die beiden hatten also genug Zeit gehabt, um den Krug auszutrinken. Ich hoffte, dass Tante Nick schwimmen gehen würde, das wäre das Einfachste gewesen. Mir war klar, dass es vielleicht nicht in dieser Nacht klappen würde, dass ich unter Umständen auf den richtigen Moment würde warten müssen. Doch als Tante Nicks Schritte auf der Treppe Minuten später immer noch nicht zu hören waren, stand ich auf und begann mit den Vorbereitungen.
    Ich nahm meine Schuhe aus der Plastiktüte, in die der Schuhputzer sie netterweise gesteckt hatte. Ich dehnte die Tüte ein bisschen mit den Fingern, damit sie auch groß genug war. Solche Details waren wichtig. Da war äußerste Sorgfalt gefragt. Es musste wie ein Unfall aussehen.
    Ich ging in den ersten Stock hinunter und schaute aus dem Fenster. Da ich sie nirgends entdecken konnte, ging ich ins Erdgeschoss. Ich spähte ins Wohnzimmer, aber es war dunkel und leer. Dann sah ich sie draußen auf der Veranda. Sie trank gerade ihr Glas aus und stellte es vorsichtig aufs Geländer. Dann bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und begann zu weinen. Ich hatte einmal den Ausdruck »bitterlich weinen« gehört. Jetzt wusste ich, was damit gemeint war. Es klang, wie wenn man knirschenden Sand durch ein Rohr schüttet.
    Nach einiger Zeit wischte sie sich über die Augen und richtete sich kerzengerade auf. In dem Moment bewunderte ich sie irgendwie. Aber dann dachte ich an Daisy, und die Bewunderung verschwand. Sie nahm ihr Glas und wandte sich zur Tür. Ich trat in den Wohnzimmerschatten zurück.
    Auf dem Weg zur Küche kam sie an mir vorbei, und ich stieg leise, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock hinauf. Alle Zimmertüren waren geschlossen, wie schlafende Augen. Ich huschte in die Ecke, wo ich mich neben der Standuhr verstecken konnte, zog die Plastiktüte heraus und wartete.
    Ich würde ihr die Tüte von hinten über den Kopf ziehen, wenn sie um die Ecke kam und zu ihrem Zimmer ging. Sobald sie nicht mehr atmete, würde ich sie die Treppe hinunterschleifen. Das würde Lärm machen, aber nicht allzu großen, und die Zeit würde ausreichen, um es wenigstens bis zur Mitte des nächsten Treppenabschnitts zu schaffen, ehe Onkel Hughes oder meine Mutter aus ihren Zimmern kämen. Dann würde es so aussehen, als wäre ich hinuntergerannt, um zu sehen, was los war. Und Tante Nick wäre nach zu vielen Wodka-Martinis gestolpert und gefallen.
    Erst eine halbe Ewigkeit später, so schien es mir, kam sie endlich, ein bisschen unsicher auf den Beinen, die Treppe herauf. Ich hörte meine eigenen

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