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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Atemzüge und versuchte, wie schon so oft, diese innere Stille herbeizuführen. Als sie an mir vorbeiging, trat ich hinter sie. Doch sie wandte sich um. Wieso, weiß ich bis heute nicht. Sie konnte mich unmöglich gehört haben. Aber da standen wir nun. Ich, die Plastiktüte in den erhobenen Händen, sie mit gerunzelter Stirn und dem sichtlichen Bemühen, aus der ganzen Sache schlau zu werden.
    Ich war jetzt sehr nah bei ihr.
    »Was tust du da, Ed?«, fragte sie warum auch immer im Flüsterton, als teilten wir ein Geheimnis.
    Ich dachte: jetzt, jetzt. Sie hat keinen Lärm gemacht. Stattdessen sagte ich: »Du und Tyler.«
    Sie riss ganz leicht die Augen auf, sie hatte verstanden. Sie tat einen Schritt zurück. Ich sprang auf sie zu. Die Situation war völlig anders als geplant, sie war, um genau zu sein, völlig verkehrt. Sie war zu riskant. Aber es blieb mir nichts übrig, als weiterzumachen.
    Ich packte Tante Nick, legte ihr den Arm um den Hals, drückte sie an mich und drehte sie um. Sie wehrte sich heftiger als erwartet, aber ich hatte ja nicht mit einer direkten Konfrontation gerechnet. Als sie mit dem Rücken zu mir stand, presste ich ihr die Hand auf den Mund. Mit der anderen schüttelte ich die Plastiktüte glatt. In meinen Ohren rauschte das Blut. Ihre Absätze scharrten über den Boden, als ich sie zur Treppe zerrte. Ich geriet in Panik. Es musste jetzt schnell gehen. Ich drückte ihren Hals mit dem Ellbogen nach unten, um ihr die Tüte über den Kopf zu stülpen. Ihr Mund machte nasse, saugende Geräusche unter meiner Hand.
    Irgendwie gelang es mir, die Plastiktüte über ihren Kopf zu ziehen und um ihren Hals herum zu verknoten. Ich hörte, wie sie die Folie einatmete. Ich hatte es fast geschafft.
    Doch dann legte sich plötzlich etwas um meinen Hals. Eine Hand. Ich musste loslassen. Und ich wusste, dass es vorbei war. Ich hatte versagt.
    Tante Nick löste sich aus meinem Griff und begann irgendwo unten an meinen Füßen zu husten. Die Tüte knisterte.
    »Nick«, hörte ich Onkel Hughes hinter mir sagen.
    Ich konnte sie nicht sehen, weil mein Kopf zurückgebogen wurde, aber nach wenigen Sekunden sagte sie: »Alles in Ordnung.« Eigentlich krächzte sie es eher.
    Onkel Hughes drehte mich um und sah mich an. Es war sinnlos, sich zu wehren oder ihn um Gnade zu bitten, das erkannte ich sofort. Ich dachte an Daisy, dachte daran, wie ich ihr gezeigt hatte, wo das Hausmädchen ermordet worden war, dachte an die Pfeilspitze und daran, dass Elena Nunes versucht hatte, uns ihre Geheimnisse zu verraten, bevor sie starb. Jetzt war ich an der Reihe.
    »Tyler«, sagte ich.
    Onkel Hughes sah mir offen in die Augen. Dann stieß er mich die Treppe hinunter.
     
    Meine Mutter liest mir vor. Jede Woche liest sie mir die neuesten Nachrichten aus der Zeitung vor, als wäre ich nicht nur gelähmt und stumm, sondern auch blind.
    Sie liest ungefähr eine Stunde lang, dann muss sie gehen. Heute bekomme ich etwas über die Antikriegsdemonstrationen in Chicago zu hören. Die National Guard musste eingesetzt werden, das wird die Stadt voraussichtlich hundertfünfzigtausend Dollar kosten. Die Zeitungen sprechen von den »Tagen der Wut«. Es langweilt mich. Aber eigentlich habe ich seit einem Jahr nichts Interessantes mehr gehört. Seit jener Nacht.
    Da sagt meine Mutter: »Ach, das hätte ich fast vergessen. Es gab ein Drama zu Hause, und ich glaube, es könnte sich um eine Wende des Schicksals handeln.«
    Sie legt den Stapel Zeitungsausschnitte aus der Hand.
    »Also, Daisy war übers Wochenende da. Habe ich dir das erzählt? Ja, ich glaube, ich habe dir letzte Woche gesagt, dass sie kommen wollte. Und jetzt rate mal, wer da aufgetaucht ist! Tyler. Er ist offenbar den ganzen Weg aus der Stadt rausgefahren. Und du weißt ja, dass wir seit der Trennung rein gar nichts mehr von ihm gehört hatten.«
    Meine Mutter zieht ihren Stuhl ein Stück näher heran.
    »Ich habe keine Ahnung, woher er wusste, dass sie da war, aber nun saß er in voller Lebensgröße vor dem Haus in seinem lächerlichen Auto. Ich habe es Daisy natürlich sofort gesagt, und du glaubst nicht, was sie daraufhin gemacht hat. Sie ist in den Keller gegangen und mit einer Tasche voller Tennisbälle und ihrem Schläger zurückgekommen. Ich war so gespannt, ich konnte kaum noch atmen.«
    Sie bekommt auch jetzt praktisch keine Luft mehr.
    »Sie geht also auf die Veranda und ruft ihn. Und in dem Augenblick, als er aussteigen will, greift sie in die Tasche, nimmt einen Ball

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