Zeit der Raubtiere
heraus, lässt ihn fallen und schmettert ihn mit aller Kraft auf seinen Wagen. Und, bei Gott, sie zielt gut, das muss man ihr lassen!«
Ich sehe förmlich die Lachtränen, die meiner Mutter in die Augen schießen.
»Da fängt er natürlich zu brüllen an. Aber Daisy macht einfach weiter, schlägt einen Ball nach dem anderen, bis ihm irgendwann nichts anderes übrigbleibt, als wegzufahren, wenn er verhindern will, dass seine Windschutzscheibe zu Bruch geht. Ich sage dir, Ed, ich habe so gelacht, dass ich fast weinen musste.
Dann ging sie ins Haus und sah mich. Das hat mir ein bisschen leidgetan, weil ich nicht wollte, dass sie glaubt, ich würde mich über ihren Herzschmerz lustig machen. Ich habe dir ja erzählt, wie lange sie schrecklich unglücklich war, nachdem er sie verlassen hatte, das arme kleine Ding. Aber sie hat mich nur angeschaut und gesagt: ›Dem hab ich’s gegeben, Tante Helena.‹ Und dann hat sie gelacht und so wie früher immer ›Donnerlittchen‹ gesagt, und ich muss sagen, mein Lieber, nie habe ich das Mädchen so geliebt wie da.«
Während sie erzählt, spüre ich, dass sich meine Backenmuskeln bewegen, und mir wird klar, dass ich lächle. Meine Mutter trocknet sich die Augen, küsst mich auf die Wange, und ich denke mir, vielleicht höre ich doch ganz gern die neuesten Nachrichten.
Während ich unten an der Treppe im Dunkeln lag, konnte ich sie hören.
Ich hatte wahrscheinlich das Bewusstsein verloren, aber irgendwann bekam ich wieder mit, was um mich herum geschah. »Oh, Hughes«, sagte Tante Nick mit heiserer Stimme. Ihre Kehle hatte wohl einiges abbekommen. »Mein Gott!«
Sie weinte. Mir war sehr kalt.
»Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«
Und dann sah ich sie. Sie saß neben mir, und ich glaube, sie berührte mich, aber ich spürte ihre Hand nicht. »Ed? Kannst du dich bewegen, Ed? Hol mal eine Decke, Hughes!«
»Ich glaube …« Mehr sagte er nicht, er war wohl schon weg, um die Decke zu holen.
Dann sah ich ihn aus dem Schatten treten und etwas über mich breiten, und mir kam der merkwürdige Gedanke, dass ich begraben wurde.
»Ich glaube, er hört mich nicht«, sagte Tante Nick. »Hast du angerufen?«
»Ja.«
Dann ertönten auf der Treppe Schritte.
Nick flüsterte: »Mein Gott, was sollen wir Helena sagen?«
»Pass auf.« Onkel Hughes sprach extrem langsam. »Er hat geschlafwandelt und ist die Treppe hinuntergestürzt. Wir waren beide im Bett, haben etwas gehört und sind hinausgegangen, um nachzusehen. Hast du verstanden?«
»Ja.«
Eine Zeitlang war es still, aber aus den Augenwinkeln sah ich schwache Bewegungen. Ich blinzelte.
Schließlich sagte Tante Nick: »Hughes, hör mir zu, ich habe versucht, es dir zu sagen.« Es klang sehr eindringlich.
»Ich weiß.«
»Nein, es ist wirklich wichtig. Es ist nichts passiert mit Tyler. Es ist nichts … Er hat einfach nicht aufgehört. Ich glaube, er hat das geglaubt, weil …«
»Ich weiß, Nick.«
Ich versuchte mich zu bewegen, aber es ging nicht. Ich hatte Schmerzen, aber nur im Kopf. Mein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich bersten. Tante Nick beugte sich über mich und legte eine Hand unter meinen Kopf.
»Wo bleibt dieser verdammte Krankenwagen?«, sagte sie.
»Ist auf dem Weg.«
Schweigen. Dann: »Hughes?«
»Ja?«
»Es ist so unglaublich merkwürdig, aber ich habe das Gefühl …« Ich musste mich anstrengen, um sie zu verstehen. »Als würde alles …«
»Ja«, sagte Onkel Hughes, »so ist es.«
Dann barsten in meinen Augen Sterne, und die ganze Welt wurde dunkel.
»Heute ist wirklich ein besonderer Tag für Sie«, sagt die Schwester. »Noch ein Besuch.«
»Hallo, Ed.«
Es ist Daisy. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre sie. Ich konzentriere mich auf meinen Hals, aber er bewegt sich nicht. Ich kann kaum fassen, dass sie da ist. Sie hat mich erst einmal besucht, ganz am Anfang. Ich hatte mich schon gefragt, ob sie von der Sache an der Treppe und von allem anderen weiß, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie mir nicht verzeihen kann, genau wie Tante Nick es prophezeit hat.
Aber sie beugt sich lächelnd über mich, also hasst sie mich wohl eher doch nicht. Sie ist bleich, aber wir haben schon Oktober, da wird die Sommerbräune verblasst sein. Ich sehe sie an und versuche, ihr mit den Augen mitzuteilen, was mein Mund ihr nicht sagen kann.
»Meine Güte, was sollen denn diese unruhigen Blicke?«, fragt sie. Sie beugt sich zu mir, legt ihre Hand an mein Gesicht und küsst
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