Zeit der Raubtiere
frittierte Muscheln aus gestreiften Schachteln, während der Tag allmählich zu Ende ging. Es war nur eine Bude mit einer überdachten Küche und einem Bestelltresen, aber man traf dort immer Leute, die man kannte. An den mit Brettern verkleideten Seitenwänden lehnten Dutzende Fahrräder, und auf der Steinmauer jenseits der Straße saßen in kleinen Grüppchen Kinder, die sich unterhielten und gegenseitig beäugten.
»Ich hole die Muscheln«, sagte Daisy, in deren Hand die Viertel-Dollar-Münzen warm geworden waren, »und du suchst einen freien Platz.«
Nachdem Daisy bei dem Aknejüngling bestellt hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an den Tresen, um besser sehen zu können, wer da war. Der Anblick von Ed inmitten der anderen Kinder versetzte ihr einen kleinen Stich. Er war ja wirklich kein Spießer, ganz im Gegenteil – viele Kinder fanden ihn geheimnisvoll und sogar aufregend, weil er aus Hollywood kam und gebügelte Latzhosen und eine Ray-Ban-Sonnenbrille trug. Aber er war so anders als die anderen. So wie er Menschen ansah, sah ihre Mutter die Melonen im Supermarkt an. Den meisten fiel es nicht mal auf, doch wer es bemerkte, ging ihm aus dem Weg. Daisy machte es keine Angst, es machte sie nur traurig und ein bisschen zappelig.
Die Bestellung kam, und Daisy ging zu Ed hinüber und setzte sich neben ihm auf die Mauer. Sie nahm eine dicke Muschel, steckte sie in den Mund und spürte den fettigen Backteig vom weichen Fleisch splittern. Sie roch die Fischerboote, die hinter dem Achterdeck lagen, und der Wind fuhr ihr so durchs Haar, dass sich der Flaum an ihrem Nacken aufstellte. In diesem Augenblick war der Sommer endlich da mit seiner rätselhaften Mischung aus Salz, kalter Haut und Benzin.
Sie sah einen hoch aufgeschossenen, schlanken, rotblonden Jungen, der sich mit Peaches Montgomery unterhielt.
»Wer ist das da drüben?«, fragte sie Ed und stieß ihn leicht an. Die abstehenden Haare des Jungen erinnerten sie an Seegras, und sie stellte sich vor, dass er roch wie die Innenseite ihres Reithelms: süß, salzig und nach Leder.
»Tyler Pierce«, antwortete Ed. »Der ist vierzehn, falls es dich interessiert. Aber ist ja klar, dass es dich interessiert.«
»Woher kennst du ihn?«, fragte Daisy, ohne auf die Stichelei zu reagieren.
»Ich bin heute Nachmittag, als du noch nicht da warst, durch die Stadt gegangen und habe Peaches getroffen.«
»Ja? Und?«
»Sie hat mir von ihm erzählt.«
Daisy sah Ed an, sprach aber nicht weiter, sondern nahm bedächtig eine Muschel aus der Schachtel und begann sie eingehend zu begutachten.
»Donnerlittchen, Ed, dir muss man wirklich alles aus der Nase ziehen. Was hat sie denn erzählt?«
»Hab nicht richtig zugehört.« Er zupfte den Backteig von der Muschel und sammelte die Teilchen in der Hand. »Sie kennt ihn von daheim, glaube ich. Und seine Familie hat gerade ein Haus in der South Summer Street gekauft.«
Daisy sah zu, wie Ed den Fingernagel in das Muschelfleisch bohrte, und dachte über die Neuigkeit nach. Sie betrachtete den Jungen genauer und bedauerte es, keinen Pferdeschwanz zu haben. Peaches hatte einen, einen hellbraunen, der hin und her schwang, wenn sie über den Tennisplatz lief.
Peaches Montgomery war Daisys Meinung nach das Überflüssigste von der Welt: angeberisch, zickig und krampfig. Eigentlich hieß sie Penelope, doch sie sagte immer, den Spitznamen habe ihr Vater ihr wegen ihrer Pfirsichhaut gegeben. Daisy glaubte das keine Sekunde lang. Aber ältere Jungen mochten Peaches. Sogar bei den Tennislehrern kam sie glänzend an. Peaches hatte offenbar das gewisse Etwas.
Jetzt bemerkte sie, dass Daisy sie beobachtete, kniff ihre schrägstehenden schmalen Augen zusammen – Mandelaugen, sagte Daisys Vater immer
–
und kam auf die beiden zugeschlendert.
»Hey, Daisy«, sagte sie und warf sich den Pferdeschwanz von der linken auf die rechte Schulter. »Hallo, Ed.« Sie sprach die Begrüßung nur ungefähr in seine Richtung, ohne ihn anzuschauen.
»Hi, Peaches«, sagte Daisy.
»Seid ihr gerade erst gekommen?«
»Mhm«, machte Daisy.
»Ihr müsst diesen Sommer alle in deinem Haus wohnen, habe ich gehört«, sagte Peaches, Ed immer noch keines Blickes würdigend. »Wird wahrscheinlich ziemlich eng, was?«
»Kann sein«, erwiderte Daisy und stopfte sich ungeniert eine Muschel in den Mund. »Spielst du dieses Jahr Tennis?«
»Aber sicher. Mein Vater hat mich den ganzen Winter über trainiert. Du weißt ja, wie er ist.«
»Stimmt.« Daisy sprang
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