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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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war?«
    Helena schwieg sekundenlang. Dann sagte sie: »Loretta. Wie hieß sie noch gleich mit Nachnamen?«
    »Das beste abschreckende Beispiel überhaupt«, sagte Daisys Mutter kichernd.
    »Und der kleine dürre Rekrut, der mit den Pockennarben, der immer vor ihrem Fenster stand und wie ein Wolf heulte.«
    »Hör auf, sonst zerreißt es mich, und unsere lieben Kleinen werden wach!«, stieß Daisys Mutter prustend hervor.
    »Wir sind einfach aus der Übung«, sagte Helena mit unterdrücktem Lachen.
    Daisy hatte die Luft so lang angehalten, dass sie glaubte, ihr Brustkorb würde zerspringen. Aber sie war völlig gebannt. Es kam ihr vor, als hätten sich Kobolde ihre Mutter und ihre Tante geschnappt und an ihrer statt Feen oder etwas Ähnliches dorthin gesetzt. Die beiden sahen so schön aus und so anders als sonst, und ihre Kopf- und Handbewegungen warfen im trüben Licht gekrümmte Schatten auf das Holz der Veranda. Was immer sie auch gesagt hätten, Daisy hätte sie geliebt. Schon ihre beschwingten Stimmen, den verwobenen Dufthauch ihrer Parfums empfand sie wie ein Liebeslied. Sie wollte bei ihnen sein dort draußen auf der Veranda unter dem grellen Mond, Eis zerbeißen und einen Träger von der Schulter rutschen lassen. Sie wollte auch zu dieser Zauberwelt gehören, die die beiden Frauen mit Windlichtern, mit Lachen und Musik erschaffen hatten. Und plötzlich mischten sie sich mit dem Bild des jungen Tyler und dem Geruch des Bootsbenzins beim Achterdeck.
    Sie drehte sich ganz langsam auf den Fußballen, damit sie auf dem gebohnerten Holzboden kein Geräusch machte, und stieg leise die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

Juli 1959
    I
    S chon zwei Wochen nach Beginn des Ferientrainings, als der Juli eben angefangen hatte, der Insel das ganze Gepräge des Sommers zu verleihen, erschien Ed nicht mehr zu den Tennisstunden. Er ging zwar jeden Morgen um acht mit Daisy aus dem Haus und begleitete sie zum Club, aber dann sah sie ihren Cousin erst wieder mittags, wenn er sie abholte und sie gemeinsam zum Essen ins Haus zurückkehrten.
    Er sagte nicht, wo er sich aufhielt in den Stunden, in denen Daisy über die heißen Sandplätze hetzte und an ihrer Rückhand arbeitete, auch nicht, was er in dieser Zeit machte. Jede Frage danach war sinnlos, denn er antwortete darauf entweder mit der Bemerkung »alles Mögliche« oder er schwieg.
    Daisy betrachtete sein Verschwinden mit gemischten Gefühlen. Einerseits war es ihr ziemlich egal. In diesen Vormittagsstunden drehten sich ihre Gedanken ausschließlich um den Sieg im Einzelturnier am Ende der Saison. Während sie in der heißen Sommersonne Neuenglands briet, während ihre Schenkel schmerzten und ihre Unterarme hart wurden wie das Wachsschnurband, das sich eng um ihr Handgelenk schloss, konzentrierte sie sich nur noch darauf, ihre Gegnerin im Übungsmatch zum Weinen zu bringen, ihren Stoppball unvorhersehbar, ihren Flugball unsichtbar, ihre Schritte sicherer zu machen und ihren Schläger wie das Pendel eines Metronoms vor der Brust zu schwingen. Ticktack, zack, zack. Bei jedem Schlag den idealen Punkt zu treffen. Die Abwesenheit ihres Cousins war schlicht eine Ablenkung weniger.
    Seine Abwesenheit stellte allerdings auch ein Problem dar, denn Ed war immer ihr Doppelpartner im abschließenden Rundenturnier. Er war zwar nicht besonders gut, aber Daisy spielte stark genug, um ihn mitzuziehen. Das Doppel war eher eine spaßige Angelegenheit, man musste es jedoch spielen, um sich für die Einzelkämpfe zu qualifizieren. Nur der Mannschaftsgeist bringt uns weiter oder was immer das Runzelgesicht Mrs. Coolridge ihnen in ihrer alljährlichen Ansprache zu Beginn der Tennissaison weismachen wollte. Normalerweise hatte Ed Angst davor, nicht am Doppelturnier teilnehmen zu dürfen, weil das die automatische Zurücksetzung im Folgejahr bedeutete. In diesem Sommer aber schien es ihm egal zu sein. Ed war nicht mehr greifbar, und Daisy musste sich auf die Suche nach einem neuen Partner machen.
    Wegen ihrer spielerischen Fähigkeiten wäre Peaches die beste Wahl gewesen, aber Daisy wollte die Chance, sie zweimal zu besiegen, nicht aus der Hand geben. Außerdem hätte ihr Trinny, die sehnige blonde Handlangerin von Peaches, die Augen ausgekratzt, hätte sie auch nur versucht, Peaches zum Überlaufen zu ermuntern. Trotzdem stellte sich Daisy immer wieder vor, wie es wäre, mit Peaches zu spielen. Wie sie sich mit wippendem Pferdeschwanz und ruhigen, wuchtigen Schlägen über den Platz bewegte und Daisy

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