Zeit der Raubtiere
von der Mauer und versuchte nach Kräften, sich die Pagenkopfhaare über die Schulter zu schleudern.
Ed sah Peaches schweigend an. Peaches warf ihm einen flüchtigen Blick zu, der so wirkte, als würde sie zusammenzucken, und machte sich auf den Weg zu ein paar Kindern, die sie gerufen hatten.
»Peaches ist dick geworden«, sagte Daisy. »Jede Wette, dass ich sie dieses Jahr im Turnier besiege.«
»Manchen Männern gefällt das«, meinte Ed.
»Und wennschon.« Manchen Männern gefällt das. Das hatte sie ja noch nie gehört. »Wenn sie ihr ganzes Fett auf dem Tennisplatz mit sich rumschleppen muss, mache ich sie spielend fertig.«
»Du schlägst sie bestimmt«, erklärte Ed in sachlichem Ton.
»Danke«, sagte Daisy.
Im still gewordenen Abend gingen sie durch die Simpson’s Lane, die keine Gehsteige hatte, nur blühende Sträucher, die über die weißen Zäune ragten und sich bis auf den Schotterweg hinabbogen. Zu dieser Tageszeit war es dort ruhig; die Reichen hatten sich zum Cocktail in den Jachtclub begeben, während die Abendsegler mit ihren Picknickkörben auf dem Weg nach Cape Poge waren. Nicht dass es in den anderen Straßen besonders lebhaft zugegangen wäre, aber die gehörten immer noch zur realen Welt. Simpson’s Lane dagegen hätte ebenso gut eine ins Nichts führende Landstraße sein können. Simpson’s Lane war eine Sommerstraße.
Daisy pflückte achtlos eine rosarote Verbene und begann die Blütenblätter abzuzupfen. Ihre Gedanken kreisten um Peaches, um Tennis und um den rotblonden Jungen.
»Sie mag dich nicht, weißt du.« Sie hob den Blick zu Ed, der neben ihr herzottelte und in die beleuchteten Fenster der Häuser rechts und links schaute. »Peaches, meine ich. Sie gruselt sich vor dir.« Ed wirkte wie in Trance. Er schien es gar nicht gehört zu haben.
»Worüber habt ihr beide euch heute Nachmittag eigentlich unterhalten?« Diesmal sah sie ihn eindringlicher an. »Die redet doch normalerweise mit keinem Jungen unter vierzehn.«
»Über alles Mögliche«, sagte Ed.
Das Zirpen der Grillen wurde lauter, und hinter dem Hafen ertönte ein Nebelhorn.
»Du hast gar nicht mit ihr geredet«, sagte Daisy nach einer kleinen Pause.
Eds Blick blieb auf die Häuser geheftet.
»Und woher hast du das alles dann gewusst?«
Ed blieb stehen und drehte sich ganz langsam zu seiner Cousine.
»Du hast sie ausspioniert«, sagte Daisy.
»So würde ich es nicht nennen.« Eds silbrige Augen musterten sie aufmerksam. »Ich will mich nur weiterbilden.«
Mitten in der Nacht wachte Daisy auf. Sie glaubte, dass es am Mond lag, der hell vom Hafen her leuchtete. Doch dann drang von unten die Stimme von Billie Holiday an ihr Ohr. Barfuß und im Nachthemd schlich sie sich hinunter und sah ihre Mutter und Tante Helena bei Kerzenlicht auf der Veranda sitzen. Sie trugen nur ihre Unterröcke, deren Seidenträger sich an ihren gebeugten Schultern spannten.
Ihre Mutter hatte den Kopf vorgereckt und lauschte mit gespannter Miene Tante Helenas leiser Stimme. Zu ihren Füßen stand eine Flasche Gin. Daisy ging näher ans Fenster heran.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Tante Helena gerade. »Vielleicht bin ich einfach die falsche Mutter. Oder ich habe ihn zu viel Zeit mit Avery verbringen lassen, keine Ahnung. Jedenfalls bin ich erschöpft, Nick, richtiggehend erschöpft.«
»Unsere Kinder«, erwiderte Daisys Mutter sanft. »Wer hätte gedacht, dass sie so anders werden würden als wir? Aber vielleicht wollten wir das ja gerade. Wenn ich Daisy anschaue, sehe ich ihren Vater, sie ist auch so golden. Manchmal – klingt vielleicht komisch –, aber manchmal fasse ich sie hart an, weil ich mich wie eine Fremde im Haus der Guten und Goldenen und Himmlischen fühle. Ich dagegen bin ja offenbar der Teufel.«
»Gute alte Nick«, sagte Tante Helena lachend. »Ach, du meine Güte – wenn ich doch auch ein bisschen mehr wie du wäre und weniger gut und golden. Obwohl ich glaube, dass dieser Teil von mir nach und nach verschwindet.«
Daisys Mutter versetzte Tante Helena einen Knuff an die Schulter. »Und was kommt stattdessen?«
»Andere Männer?«
»Das traust du dich doch gar nicht.«
»Ach, du glaubst wohl, du bist die Einzige?«
Daisys Mutter sah Helena an. Dann trank sie einen Schluck aus ihrem Marmeladenglas und zermalmte das Eis zwischen den Zähnen. »Erinnerst du dich an diese grauenhafte dicke Frau, die in der Elm Street neben uns gewohnt hat? Die, bei der jede Nacht ein anderer von der Navy
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