Zeit der Raubtiere
ihrer Hand war auf dem Schoß umgekippt, und auf ihrem königsblauen Sommerkleid breitete sich ein dunkler Fleck aus.
»Tante Helena«, sagte Daisy etwas lauter und schüttelte sie sanft.
Ihre Tante schlug die Augen auf und schien zunächst nicht zu wissen, wo sie Daisy einordnen sollte.
»Du siehst wirklich müde aus, Tante Helena. Willst du nicht nach oben gehen und dich hinlegen?«
Wortlos raffte sich ihre Tante auf und verschwand Richtung Treppe. Daisy sah, wie sie sich beim Hinaufgehen schwer auf das geschwungene Geländer stützte.
»Das ist meine Tante«, sagte Daisy, als sie auf die Veranda trat. »Sie ist sehr müde, wahrscheinlich wegen der Hitze.«
Anita erwiderte nichts. Sie sah Daisy nur an und biss in ihr Sandwich.
»Ist sie mit deiner Mutter verwandt?«, fragte sie schließlich kauend.
»Ja. Das heißt, sie ist nicht ihre Schwester, nur ihre Cousine, aber ich nenne sie Tante.«
»Meine Mutter hat ein paar Schauspielerfreundinnen, die sie Schwestern nennt, aber ich sage nicht Tante zu denen«, erklärte Anita.
Während Daisy ihr Sandwich aß, fragte sie sich, ob Anita und sie, aus dem Inneren des Hauses betrachtet, genauso aussahen wie ihre Mutter und ihre Tante, genauso weiblich und bezaubernd und in Erwachsenengespräche über Theaterstücke und New York und über Leichen vertieft.
Als Ed von den Pfadfindern zurückkehrte, hatte Daisy Anita bereits in das Geheimnis ihres Verstecks mit den Archie-Heften und der rosa Muschel eingeweiht. Sie hatte ihr sogar das Einhorn gezeigt, und Anita hatte nicht gelacht, sondern die Mähne bewundert. Sie spielten gerade auf dem Fußboden in Daisys Zimmer Leben und Tod, als Ed in seiner komischen khakibraunen Uniform mit dem Halstuch hereinkam. In den Shorts sahen seine Beine aus wie weiße Stelzen.
»Hallo«, sagte Ed.
»Oh«, rief Daisy. »Hi!«
Anita legte die Karten beiseite und sprang auf. »Hi, ich bin Anita. Du bist wahrscheinlich der, der die Leiche gefunden hat.«
Ed betrachtete Anita schweigend.
»Daisy hat mir viel von dir erzählt«, fuhr Anita lächelnd fort.
Das stimmte nicht. Anitas Worte empörten Daisy ein bisschen.
»Und – wie ist es so bei der Spießerbrigade?«, fragte Daisy.
»Eigentlich ganz interessant«, gab Ed zurück. »Wir haben den ganzen Tag an den Gay-Head-Klippen Pfeilspitzen gesucht.«
Er bückte sich und legte behutsam einen kleinen, spitz zulaufenden grauen Stein neben Daisys Kartenstapel.
»Für dich«, sagte er leise. »Ich war der Einzige, der eine gefunden hat.«
Daisy bereute es plötzlich, so gemein zu ihm gewesen zu sein. »Danke.«
»Mensch«, sagte Anita, »die ist toll!«
»Und mein neues Messer habe ich auch benutzt«, verkündete Ed und drehte das rote Schweizer Armeemesser, das Daisys Vater ihm geschenkt hatte, in der Hand. »Ich habe damit Schösslinge abgeschnitten.«
»Müsst ihr Treue auf die Fahne schwören und das alles?«, wollte Anita wissen. »Meine Mutter sagt, das ist Gehirnwäsche.«
Ed schaute sie jetzt genauer an. »Nein, Mr. Reading glaubt nicht an so was. Er sagt, er ist ein Rebell, und die Pfadfinder von Massachusetts erlauben ihm nicht mal, ein richtiger Pfadfinderführer zu sein, jedenfalls keiner nach ihren Regeln. Wir wenden die traditionellen Methoden von Ernest Thompson Seton an, die Indianermethoden.«
»Indianer sind toll«, sagte Anita. »Wusstest du, dass sie nicht an Gott glauben?«
Es ärgerte Daisy, dass die beiden über ihren Kopf hinweg miteinander plauderten.
»Soll das heißen, dass Mr. Reading nicht an Gott glaubt?«
»Nicht jeder glaubt an Gott«, sagte Ed. »In Hollywood glauben ganz viele nicht an ihn.«
»Ihr seid ja verrückt«, sagte Daisy. »Und wenn er kein richtiger Pfadfinderführer ist, kriegt ihr auch keine Abzeichen.«
»Das macht nichts«, meinte Ed. »Ich lerne, wie sie früher Holz geschnitzt haben, und schlachte Kaninchen mit dem Messer, genau wie die Indianer von Gay Head. Überlebenstechniken. Das ist viel nützlicher.«
»Ihr tötet Kaninchen?« Daisy war entsetzt.
»Sie müssen nicht leiden. Wir drehen ihnen vorher den Hals um.«
»Ihr müsst sie wirklich erwürgen?«, fragte Anita fasziniert.
»Im Grunde bricht man ihnen das Genick«, erklärte Ed sachlich. »Man hält das Tier und drückt kurz den Hals nach hinten. Und dann hängt man es an den Hinterläufen auf und schneidet den Kopf ab, damit es ausblutet.«
Daisy wurde es plötzlich schwindlig.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Anita. »Du bist ganz käsig
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