Zeit der Raubtiere
sich nach irgendeinem noch so kleinen Aufhänger um, mit dem sich das Gespräch weiterführen ließe. »Früher hatte es zwei Küchen.« Sie bereute es sofort. Was machte sich ein Junge schon aus Küchen? »Mein Cousin hat mir eine echte indianische Pfeilspitze von Gay Head mitgebracht. Möchtest du sie mal sehen?«
»Klar«, sagte Tyler. »Ich bin ehrlich gesagt ziemlich durstig.«
»Oh. Magst du Limonade? Meine Mutter hat da ein Geheimrezept.«
»Ein Geheimrezept? Wirklich? Also, das wäre toll.«
»Komm«, sagte Daisy und führte ihn über den Weg zur Veranda. »Du kannst dich hierhersetzen. Ich hole gleich die Limonade.« Sie wollte nicht, dass Tyler Tante Helena schnarchend in ihrem Lieblingssessel sitzen sah.
Es war still im Haus. In der Küche goss sie hastig Limonade in zwei große, mit Glockenblumen verzierte Tumbler. Während sie vorsichtig damit zurückging, warf sie einen Blick in den blauen Salon. Von ihrer Tante war nichts zu sehen. Sie schaltete das alte Radio ein und drehte es so laut, dass man die Musik noch auf der Veranda hören konnte. Little Anthonys Song über die Tränen auf seinem Kopfkissen füllte den Raum. Sie stieß mit der Hüfte die Fliegengittertür auf und stellte erleichtert fest, dass Tyler sich nicht vom Fleck bewegt hatte.
»Da.« Daisy reichte ihm einen Tumbler und sah zu, wie er den Rand ein wenig drehte und die ins Glas geätzten Glockenblumen betrachtete, bevor er zu trinken begann.
Sie versuchte ihn sich einzuprägen. Auf der Brust seines weißen Polohemds war das Abzeichen des Tennisclubs aufgenäht, und an seinem Haaransatz hatten sich Schweißperlen gebildet. Seine Tennisschuhe waren ordentlich geschnürt, aber ohne Doppelknoten, so als wüsste er, dass sich die Senkel ganz bestimmt nie im falschen Moment lösen würden. Es gefiel ihr, wie er die Glockenblumen betrachtet hatte, dass ihm jede Einzelheit wichtig war.
»Schmeckt gut«, sagte Tyler und stellte das leere Glas auf dem schmiedeeisernen Tisch zwischen ihnen ab. »Was ist das Geheimnis?«
»Das weiß nur meine Mutter«, antwortete Daisy. Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass ihre Mutter versprochen hatte, es ihr zu verraten, wenn sie älter sei, verkniff es sich aber. »Möchtest du dir die Pfeilspitze ansehen?«
»Klar«, sagte er, aber sein Blick war auf die Straße gerichtet.
»Bin gleich wieder da.«
Daisy raste die gebohnerten Stufen zu ihrem Zimmer hinauf, zog das Einhorn hervor und begann in ihrer geheimen Schublade zu wühlen. Sie suchte zwischen den Muscheln und den Münzen, die ganz unten lagen, aber die Pfeilspitze war nicht da. Hatte sie sie wirklich in die Schublade gelegt? Fieberhaft versuchte sie sich zu erinnern. Was hatte sie damit gemacht, nachdem Ed sie ihr geschenkt hatte? Anita hatte sie kurz in der Hand gehabt, sie ihr aber dann zurückgegeben. Sie sah unter dem Bett und auf dem Nachtschränkchen nach, dann, auf dem Bauch liegend, unter dem lackierten Heizkörper unterhalb des Fensters, wo sich aber nur eine tote Fliege und ein einsames Spinnennetz fanden.
Weil sie befürchtete, Tyler würde die ganze Sache abschreiben und gehen, wenn sie noch länger brauchte, beschloss sie, den Rückweg anzutreten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie die Treppe hinunter und lief auf die Veranda.
Ihre Mutter stand, zu Tyler hinuntergebeugt, da und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie trug knallrote Shorts über ihrem trägerlosen Badeanzug. Ihr dunkles Haar, noch nass vom Schwimmen, streifte Tylers Wange.
Daisy erstarrte. Ihre Mutter richtete sich langsam auf und lächelte sie an.
»Hallo, mein Schatz.«
Daisy wusste, dass ihr Mund offen stand, aber es kam kein Laut heraus. Sie sah Tyler an, der zu ihrer Mutter hinaufgrinste.
»Daisy?«, sagte ihre Mutter lachend. »Ist alles in Ordnung, Schatz? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Ich habe meine Pfeilspitze gesucht«, sagte Daisy schließlich. Von ihren Fingern ausgehend, strömte eine heiße Welle zu ihren Wangen hinauf und breitete sich dort aus wie ein Sonnenbrand. »Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte sie übertrieben laut.
»Was?« Ihre Mutter schmunzelte noch immer so, als wäre Daisy einfach nur lächerlich.
»Wo ist sie? Warum hast du sie angerührt! Sie gehört nicht dir, Ed hat sie mir geschenkt!« Sie stampfte so stark mit dem Fuß auf, dass die Glockenblumengläser auf dem eisernen Tischchen klirrten.
»Daisy«, sagte ihre Mutter jetzt in strengerem Ton, »ich habe überhaupt nichts mit ihr gemacht. Ich habe
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