Zeit der Raubtiere
wunderschön aus, Mummy«, sagte sie.
Ihre Mutter lachte, ihr knallroter Mund weitete sich vor Freude. »Erinnerst du dich, Helena?« Sie breitete den Rock aus und drehte sich wie kurz zuvor Tante Helena. »Ich habe es aus dem Stoffballen machen lassen, den Großvater damals aus Indien mitgebracht hat. Ich fand die Idee witzig.«
Daisys Tante starrte auf das Kleid. »Ich dachte, du wolltest Kissenbezüge daraus machen. Für Tiger House, hast du gesagt. Und dass der Stoff nicht für zwei Kleider reichen würde.«
»Ja, schon«, sagte Daisys Mutter und zupfte an dem Musselinstoff herum, »aber Kissen sind doch langweilig. Jedenfalls ist es jetzt ein Kleid.« Sie zwinkerte Daisy zu. »Und du, du siehst ganz zauberhaft aus.«
Daisy beobachtete, wie sich die Lippen ihrer Mutter über den weißen Zähnen dehnten, wie ihr Arm einen perfekten Bogen bildete, während sie einen der Träger zurechtrückte, und glaubte, vor einem Panther zu stehen oder vor einem anderen wilden Tier, das gerade sein Dinner gefressen hatte und sich zufrieden die Lippen leckte. Vielleicht, dachte sie, hatte ihre Mutter genau das mit dem gewissen Etwas gemeint. Etwas Wildes, Schönes und Abscheuliches, alles auf einmal.
Ihre Tante mit ihrem zerknitterten Kleid und dem Lobster-Bisque-roten Mund anzublicken, brachte sie nicht über sich.
»Sieht Tante Helena nicht absolut entzückend aus, Liebling?«
»Ja«, sagte Daisy. Sie war wütend auf ihre Mutter. »Ich ziehe mich jetzt um«, murmelte sie und floh aus dem Zimmer.
Oben zog sie ihren Bademantel aus und betrachtete sich im Spiegel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Brüste aussehen würden, wenn sie endlich da wären. Im Moment existierten sie nur andeutungsweise, so wie die unvollendeten Skizzen, die ihre Mutter ihr einmal in einem Museum gezeigt hatte. Sie dachte an das Hausmädchen der Wilcox und an die zerbissenen Brüste. Sie wandte sich vom Spiegel ab, kramte in ihrem Schrank und zog das Kleid heraus, das sie bei der Party tragen sollte. Es war ein Kleiderrock aus weißem Leinen mit großen steifen Rüschen an den breiten Trägern und einer roten Seidenschärpe. Ihre Mutter hatte nachgegeben und den Saum herausgelassen, so dass der weite Rock fünf Zentimeter unterhalb des Knies endete und sie sich erwachsener fühlen konnte. Als sie das Kleid zum Bett trug, um es dort auszubreiten, entdeckte sie neben dem Kissen ein Blatt von dem steifen Briefpapier ihrer Mutter. Eine kleine, runde, mit Perlen eingefasste Brosche lag darauf.
Für meinen Liebling Daisy – Du wirst das hübscheste Mädchen der ganzen Party sein. Steck sie Dir an die Schärpe. In Liebe, Mummy
Ein Gefühl großer Liebe zu ihrer Mutter wallte in Daisy auf. Die Wut, die sie eben noch empfunden hatte, und das Bild von den roten, über den Zähnen gespannten Lippen verblassten.
Nachdem sie das Kleid mit viel Mühe angezogen hatte, musterte sie sich ein weiteres Mal im Spiegel und seufzte. Sie sah noch immer wie ein Baby aus. Sie holte den Silver-City-Pink-Lippenstift aus dem Versteck, ging zum Spiegel zurück und schminkte sich den Mund mit dem frostigen Pastellrosa. Während sie die Lippen spitzte und mehrmals aufeinanderpresste, erschien plötzlich Ed hinter ihr.
»Deine Mutter wird das nicht gern sehen.«
»Na und?«, sagte Daisy, wischte sich aber den Lippenstift mit dem Handrücken ab. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht so heranschleichen sollst, Ed Lewis!«
»Ich habe mich nicht herangeschlichen. Du konntest mich doch im Spiegel sehen«, erwiderte er. »Du siehst attraktiv aus.«
»Donnerlittchen, wer sagt denn ›attraktiv‹?«
»Und wer sagt ›Donnerlittchen‹?«
»Stell keine dummen Fragen! Wie viel Uhr ist es?«
»Halb sieben«, antwortete Ed mit einem Blick auf seine Schweizer Armeeuhr, die ihm seine Mutter geschenkt hatte, nachdem sie bemerkt hatte, wie sorgsam er mit dem Messer umgegangen war. »Tyler kommt um acht.«
Daisy rollte mit den Augen. »Weiß ich doch. Hab ich dich vielleicht danach gefragt?«
»Nein, aber du hast es gedacht«, gab Ed sachlich zurück.
»Warum glaubst du immer, du könntest meine Gedanken lesen? Du bist so ein Besserwisser!«
Ed schwieg, und Daisy hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Denn genau das war das Problem mit Ed: Er wusste wirklich, was sie dachte.
»Außerdem ist es gruselig«, erklärte sie. »Deshalb hast du auch keine Freundin. Und wenn ich Tyler mag – na, wennschon. Ich habe wenigstens jemanden zum
Weitere Kostenlose Bücher