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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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versuchte, das Kleid ihrer Mutter im Farbenmeer auszumachen. Die Musik hatte aufgehört. Die Musiker verbrachten ihre Pause Zigaretten rauchend am Zaun. Daisy entdeckte ihren Vater an der Bar und zog ihn am Ärmel.
    »Wo ist Mummy?« Ihre Stimme klang komisch, schrill und verstimmt wie ein altes Klavier, das im Keller vor sich hin schimmelt.
    Das Lächeln ihres Vaters verflog. »Daisy, was ist denn?«
    »Wo ist Mummy? Ich muss zu Mummy.«
    »Ich weiß es nicht, Schätzchen.« Er ließ den Blick über den Rasen schweifen. »Ich glaube, sie wollte kurz zum Bootshaus, sich ein bisschen abkühlen.«
    Daisy stürmte den Abhang zum kleinen Bootshaus am Rand des Hafens hinunter. Sie hörte ihren Vater ihren Namen rufen, aber sie achtete nicht darauf. Sie musste ihre Mutter finden.
    Als sie den Schuppen erreichte, in dem die Schwimmwesten und Petroleumlampen und anderer Kram verstaut waren, hörte sie leises Wasserrauschen. Offenbar stand ihre Mutter unter der Außendusche, in der sie sich nach dem Schwimmen immer das Salz abbrausten. Daisy ging langsam und schwer atmend zur Vorderseite des Bootshauses und wäre beinahe über das Kleid ihrer Mutter gestolpert, das im Gras lag.
    An der Treppe, die zum Strand hinunterführte, sah sie zu ihrer Verblüffung den Trompeter. Er frottierte sich die Haare, und sein Unterhemd klebte an ihm.
    »Hi«, sagte er und lächelte Daisy zu.
    »Hi«, sagte Daisy, unsicher, ob sie weitergehen oder stehen bleiben sollte.
    »War kurz schwimmen. Heiße Nacht heute.« Er sah sie an und rubbelte sich weiter trocken.
    »Ach so.« Es hatte sich angehört, als wollte er mit ihr plaudern, und Daisy wollte höflich sein, aber es kam ihr merkwürdig vor, so nahe bei ihm im Halbdunkel zu stehen. Weil er nur ein Unterhemd trug, konnte sie die schwarzen, unter seinem erhobenen Arm sich kräuselnden Haare sehen. Sie wartete einige Sekunden und sagte dann: »Ich suche meine Mutter. Ich muss jetzt gehen.«
    »Ja, ja.« Er lächelte träge. »Schon klar.«
    Daisy schob sich an ihm vorbei und ging zur anderen Seite des Bootshauses. Einmal drehte sie sich um und sah, obwohl sein Gesicht halb im Schatten lag, dass er ihr immer noch nachschaute.
    Als sie um die Ecke trat, erkannte sie den vagen Umriss der Außendusche und die üppigen Apfelrosensträucher, die um sie wucherten. Das Plätschern des Wassers wurde von der Stimme ihrer Mutter übertönt; sie summte eine Melodie, die bei der Party gespielt worden war.
    Daisy ging rasch auf das Geräusch zu, doch dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Direkt vor ihr stand Ed, das Gesicht an die Holzlatten gepresst, die den Sichtschutz der Dusche bildeten. Eine Hand lag flach auf einem der Bretter über seinem Kopf. Er war ruhig wie immer, aber irgendetwas erinnerte Daisy an das Eichhörnchen, das sie einmal im Cambridge Common gesehen hatte und dessen muskulöser kleiner Körper unkontrolliert gezuckt hatte. Tollwütig, hatte ihre Mutter damals gesagt.
    Vielleicht hatte sie sich ja geirrt, vielleicht war ihre Mutter gar nicht in der Dusche. Oder die beiden spielten ein Spiel. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen: Peaches’ Arm um Tylers Nacken, Anitas näher kommendes Gesicht in der Dunkelheit, der Trompeter, der seine Haare frottierte. »Der Kavalier schweigt und genießt. Ordnung ist das halbe Leben. Kinder soll man sehen, nicht hören.« Sie sagte sich die Spruchweisheiten ihrer Mutter auf, alle, die ihr einfielen, und fand in deren Wiederholung einen sonderbaren Trost.
    Beim Klang ihrer Stimme drehte Ed sich um – zuerst den Kopf, dann, nachdem er die Hand von den Brettern genommen hatte, den ganzen Körper. Er schaute sie an. Daisy erwiderte seinen Blick. So standen sie eine Weile und sahen einander in die Augen. Eds Gesicht war starr wie eine Maske.
    »Mummy?«, rief Daisy laut, ohne den Blick von Eds Augen zu wenden. Ihre Mutter war kaum zwei Schritte entfernt, aber das Wasser lief, und sie konnte sie nicht hören.
    Ed ging auf sie zu, und einen Sekundenbruchteil lang packte Daisy die Angst. Dann stand er vor ihr, größer, als sie ihn in Erinnerung hatte.
    »Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen«, sagte er leise. Er stand jetzt so dicht bei ihr, dass sie seinen Atem an der Wange spürte.
    Daisys Herz pochte, einmal, zweimal. Sie atmete schwer. Sie schluckte. »Doch nach einer Weile sind sie wieder heile.« Ihre Stimme klang rauh und tief. Ihre Beine zitterten. Sie bohrte die Absätze in den weichen Boden, um es zu verbergen.
    Ed neigte den Kopf

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