Zeit der Raubtiere
beigebracht.«
»Nein danke«, sagte Daisy.
»Komm schon, dann wissen wir, ob du morgen gewinnst.«
»Ich habe doch gesagt, du sollst es nicht verschreien.« Warum waren heute Abend alle so lästig? Am liebsten wäre sie aufs Rad gestiegen und in die Dunkelheit hinausgefahren, den Pease’s Point Way entlang, die vom Hafen her pfeifende Luft in den Ohren. »Los, wir suchen sie«, sagte sie und stand auf. »Ich bin schon ganz zerstochen von den Mücken hier.«
Sie ging seitlich am Haus vorbei; Anita folgte ihr langsam. Unterwegs trat Daisy gegen die kleinen Kiesel. Dass ihre weißen Sandalen dabei verschrammten, bereitete ihr eine merkwürdige Freude. Der Weg zwischen Haus und Zaun war schmal und düster, und die Party leuchtete hell über die ganze Straße. Sie fühlte sich sonderbar, wie in einem Traum, den sie manchmal träumte und in dem sie laut rief, ohne von irgendwem gehört zu werden.
Als sie den Rasen vor dem Haus erreichte, war sie erleichtert und atmete tief die Nachtluft ein. Da erregte etwas – ein leises Geräusch vielleicht – ihre Aufmerksamkeit. Und dann sah sie die beiden. Sie standen auf der Veranda. Tyler senkte den Kopf zu Peaches’ Mund, seine Hand lag leicht auf ihrer Schulter. Über ihnen schwang ein bemalter Lampion – eine Japanerin, die sich kämmte, und einen Augenblick lang überlegte Daisy, wie sie es geschafft hatte, ihr schwarzes Haar so lang wachsen und an den Füßen in so perfekten Wellen auslaufen zu lassen.
Es war ein ruhiger Kuss, bei dem nur Peaches’ Pink Parfait im sanften Wind flatterte, doch in Daisys Ohren dröhnte es wie tief unten im Ozean, wo es still und doch durchdringend laut ist. Ihr Puls raste. Sie öffnete den Mund, aber wie in ihrem Traum kam kein Laut heraus.
Peaches’ Arm glitt um Tylers Hals. Daisy wollte sich rühren, sie wusste, dass sie es tun sollte, aber sie war auf seltsame Weise fasziniert. Gleichzeitig hatte sie das sonderbare Gefühl, gar nicht da zu sein. Sie war auf einmal so durstig.
Peaches wandte das Gesicht von Tyler ab und stieß einen leisen Seufzer aus, der Daisy wie ein Messer durchbohrte. Auf Zehenspitzen, wie ein Indianer, ging sie lautlos um die Ecke, die Hand auf der Brust, um den Schmerz zu stillen. Sie dachte an die verschmierte Schminke von Tante Helena, an das breite rote Grinsen ihrer Mutter, an das barfuß im nassen Gras tanzende Paar. Dann begann sie zu weinen.
Du wirst das hübscheste Mädchen der ganzen Party sein.
Anita stolperte im Dunkeln fast über sie. Sie sah Daisy an und lugte um die Ecke.
»Ohhhh«, flüsterte sie.
Daisy versuchte die Tränen zurückzuhalten, indem sie sich heftig die Augen rieb, die Finger tief in die weiche, feuchte Haut grub. Der Champagner stieß ihr sauer auf.
Anita hob den Saum ihres Kleids und löste ein weißes Taschentuch, das dort mit einer Nadel festgesteckt war. »Das hat mir meine Großmutter mitgegeben«, sagte sie. »Für alle Fälle.«
Daisy brachte es nicht über sich, sie anzusehen. Sie schämte sich. Sie wollte wie Scarlett O’Hara sein, mit dem Fuß aufstampfen, den Kopf zurückwerfen und einen anderen heiraten. Aber sie hatte Angst. Die Angst ihrer Gegnerinnen hatte sie schon oft gerochen, es war tatsächlich ein Geruch halb nach Rost, halb nach feuchter Erde, aber nun nahm sie ihn zum ersten Mal auch an sich wahr. Sie wünschte sich Anita weg und hatte gleichzeitig Angst davor, allein zurückzubleiben. Aus der Ferne waren Gelächter und Gläsergeklirr zu hören.
Anita nahm einen Zipfel des Taschentuchs und begann Daisys Augen damit sanft abzutupfen. Daisy war dankbar für das kühlende Leinen auf ihrer heißen Haut und für den tröstlichen Duft von Stärke und Lavendelwasser. Sie spürte die Hand ihrer Freundin auf der Stirn, ihren Zeigefinger, der die Braue entlangfuhr; dann rückte Anitas Gesicht in der Düsternis näher, ihre dunklen Augen schienen größer zu werden, und plötzlich waren Anitas Lippen auf ihren. Daisy schmeckte die eigenen salzigen Tränen vermischt mit Anitas Atem, spürte Anitas Haar an ihrer Wange und den weichen Flaum auf Anitas Oberlippe. Sie fühlte sich leicht, und ihr Herz drängte mit einem einzigen langen, gewaltigen Schlag an ihren Brustkorb und ließ sie erzittern.
Sie stieß Anita heftig weg, die ins Stolpern geriet und das Gleichgewicht verlor, aber das war Daisy egal. Sie lief los, hin zu den Lichtern der Party, über die Straße und auf den abschüssigen Rasen, zwängte sich durch die Grüppchen lächelnder Gäste und
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