Zeit der Sinnlichkeit
Whitehall vorbeifuhren, das Licht in den Fenstern sah und das Lachen hörte, doch selber auf dem seichten, dunklen Wasser davon ausgeschlossen war, und ich wußte, was ich an der Welt so verabscheute: daß des einen Freud oft des anderen Leid ist.
Es regnete zwei Tage lang, und während dieser Zeit dachten Daniel und ich uns zur Zerstreuung einige reizende Variationen über meine alte Melodie Alle Schwäne aus, so daß wir aus diesem langweiligen kleinen Lied ein wirklich hübsches Musikstück machten. Nach dem Abendessen des zweiten Tages holten wir unsere Instrumente hervor und spielten es in der Wohnstube den Betreuern vor, und zu meiner ganz besonderen Freude sah ich, daß Pearce davon sehr bewegt war, auch wenn er danach nur zu mir sagte: »Fortschritte, Robert. Du machst Fortschritte.«
So öffneten wir denn am letzten Junitag, kurz nach der Sommersonnenwende, die Türen des Fox und Fell und führten die Leute hinaus. Auf eine auf Böcken liegende Tischplatte hatten wir drei Eimer Wasser sowie einige Tassen und Suppenkellen gestellt, und ich sah, daß sich einige Männer, noch bevor das Tanzen begann, Wasser über die Köpfe schöpften und lachten. Andere machten es ihnen nach, und dieses Spielen mit dem Wasser schien sie so vollkommen in Anspruch zu nehmen, als wäre es für sie das Schönste auf der Welt. Doch dann begannen Daniel und ich mit einer Polka, und langsam schob sich die ganze Gruppe zu dem hölzernen Podium, auf dem wir standen, und starrte zu uns herauf, viele mit
offenem Mund, manche mit den Händen über den Ohren. Es war sehr schwierig, vor diesen herandrängenden Menschen zu spielen. Auf einmal sah ich, wie Katharine sich einen Weg nach vorn bahnte und sich so dicht vor mir aufstellte, daß ich mich ein wenig zur Seite wenden mußte, um ihr nicht die Oboe ins Auge zu stoßen.
Als wir die Polka beendet hatten, trocknete ich mir die Stirn ab; einige Leute klatschten, wie Kinder, mit gespreizten Fingern, andere lachten, und wieder andere gingen zu den Wassereimern zurück.
Ambrose kam nun zu uns aufs Podium hinauf und hielt der Schar der Verrückten eine kleine Ansprache: »Heute gehen wir einmal nicht um den Baum herum, sondern tanzen. Robert und Daniel spielen für uns auf, und wir hüpfen oder galoppieren herum. Es spielt keine Rolle, welche Schritte oder Figuren wir machen. Wir können zusammen im Karree oder im Kreis tanzen, oder jeder wie ein Irrwisch für sich allein. Eure Betreuer, wir alle, werden mit euch tanzen. Und nun wollen wir anfangen.«
Ambrose stieg wieder hinunter, und er, Hannah, Eleanor und die anderen nahmen sich jeder einen Mann oder eine Frau zum Partner. Wir stimmten eine neue Polka an, und die Menschenmenge wandte sich ein wenig von uns ab, um die zu beobachten, die nun herumhüpften. Auch Pearce war darunter, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie man eine Polka tanzt, sondern nur auf und ab sprang und dabei eine ältere Frau an den Händen hielt, die so dünn war wie er und nun in ein dermaßen heftiges, meckerndes Lachen ausbrach, daß sie kaum noch Luft bekam.
Nach dem dritten oder vierten Mal, als immer noch ganz wenige auf irgendeine Art mittanzten und viele sich nur ver
wirrt und entrüstet umsahen, bekam ich Angst, daß mein Experiment ein kläglicher Mißerfolg werden würde. Katharine hatte sich auf die Erde gesetzt und an meinen Stiefel geklammert, so daß ich das Gefühl hatte, am Boden festgekettet zu sein wie jene im Whittlesea, von denen wir jetzt Rufe und Schreie sowie heftiges An-die-Wand-Schlagen hören konnten.
Ich fühlte mich vor Beschämung ganz elend. »Es klappt nicht«, flüsterte ich Daniel zu. »Sie verstehen nicht, was sie tun sollen.«
Daniel legte seine Fiedel auf den Boden und zog seine Weste aus. Sein Gesicht war rot und verschwitzt. Dann nahm er seine Fiedel wieder auf, zupfte zum Stimmen an der A-Saite und sagte zu mir: »Laß es uns mit der Tarantella versuchen!«
Ich seufzte. Ich mußte an die vielen Stunden denken, die wir mit dem Üben der schwierigen Tarantelle de Lyon verbracht hatten. Alles schien vollkommen umsonst gewesen zu sein. Ich blies den Speichel von meinem Rohrblatt und beugte mich hinunter, um Katharines Hand von meinem Fuß zu nehmen und sie aufzuheben. Dann sprach ich ein paar Worte zu den sogenannten Tänzern:
»Wir spielen jetzt eine Tarantella für euch«, kündigte ich an. »Das ist ein wirbeliger Tanz. Wie wäre es also, wenn ihr dabei herumwirbelt oder -springt, euch dreht oder sonst irgendwie
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