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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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dürfte sich ihm dann nähern, »so daß er nicht nur sicher ist, sondern auch nichts von all dem Unerfreulichen in dieser Welt zu sehen oder spüren bekommt, nichts von den Ränken und der Häßlichkeit darin, denn vom Turmfenster aus wird er nur Schönes sehen …« Dieser Unsinn zog Katharine so in ihren Bann, daß sie im Stehen einschlief; ich erhob mich, nahm sie auf meine Arme und legte sie auf das Bett nieder. Da ich nicht neben ihr liegen wollte, wußte ich nun nicht, was ich mit mir selbst machen sollte, und so setzte ich mich auf den har
ten Stuhl, der am Fenster stand, um zu den Sternen hinaufzuschauen und zu versuchen, Jupiter mit seinen kleinen, ihn umkreisenden Monden zu finden. Das Fenster war jedoch rußig, und ich konnte nur mein eigenes Spiegelbild sehen, und plötzlich fiel mir auf, daß ich innerhalb kurzer Zeit sehr gealtert war und mein Gesicht, das ich noch als breit und lächelnd in Erinnerung gehabt hatte, hager und sorgenvoll geworden war.
    Meine Gedanken wanderten zu Celia. Ich weiß nicht, ob dies durch meinen Versuch, Jupiter zu sehen, ausgelöst wurde oder durch die von mir festgestellten Veränderungen in meinem Aussehen, das ihr von jeher zuwider gewesen war. Ich dachte an meinen denkwürdigen Entschuldigungsbrief an sie, den ich so viele Stunden überdacht, aber nie geschrieben hatte, und an die wenigen, erbärmlichen Zeilen, die ich statt dessen geschickt hatte. In Gedanken schrieb ich den Brief noch einmal neu. Ich sagte darin, daß ich verstanden hätte, daß die Liebe einen um den Verstand bringt. Ich erzählte Celia, daß es nun mein eigenes Los sei, von jemandem geliebt zu werden, dessen Liebe ich nicht erwidern könne, daß mich die Furien der Schuld und des Abscheus Tag und Nacht jagen würden und daß dies genauso grausam sei wie Liebesleid. »Deshalb kann ich jetzt ermessen«, schloß ich den Brief in meiner Vorstellung, »wie sehr Ihr durch mich leiden mußtet, und ich bitte Euch um Vergebung dafür.«
    Aus mir unerfindlichen Gründen nahm diese Entschuldigung an Celia mir so viel von meiner Angst, daß ich auf dem Stuhl einschlafen konnte. Doch es war kein friedlicher Schlaf, denn in der Nacht hatte ich einen traurigen Traum von meiner Mutter, in dem ich zu ihr in Amos Treefellers altes Zimmer ging, um mit ihr zu sprechen, dann aber feststellen mußte,
daß sie mich weder sehen noch hören konnte; in dem Glauben, daß ich nicht da war, setzte sie sich ihre Haube auf, ging weg und ließ mich allein.
     
    Das warme Wetter, das wir seit dem Vortag wieder hatten, begleitete uns auf unserer Reise nach London, und als wir uns der Stadt näherten, sah ich, »daß das Gras am Straßenrand braun und verdorrt und das Laub am Boden trocken und spröde war, so, als habe es lange Zeit nicht geregnet. Durch das Fenster der Kutsche erblickte ich außerdem einen kleinen Schwarm Fliegen und Insekten, der sich mit uns dahinbewegte, und so fragte ich unsere Mitreisenden: »Wie war denn das Wetter seit dem Sommer in London?« Sie antworteten, daß man nicht sagen könne, wie es »seit dem Sommer« gewesen sei, da der Sommer nie richtig aufgehört habe, sondern »schrecklich schwül und unangenehm« geblieben sei. In der Hauptstadt habe es seit Monaten keine kühle Brise und keinen erfrischenden Schauer mehr gegeben, »so daß es überall stinkt, und alle, die klug sind, verlassen London und fahren nicht dorthin«.
    Da mit dem Thema »Wetter« die Unterhaltung nun einmal in Gang gesetzt war, ließen sich die Leute in der Kutsche jetzt auch ausführlich über das Thema »Pest« aus – so, als hätten sie seit vielen Tagen und Nächten nur darauf gewartet, diese samt ihren Schrecken zu schildern, und nur noch keine Zuhörer gefunden. (Es ist mir schon oft aufgefallen, daß es in der Natur vieler Männer und Frauen liegt, sich in Schreckens- und Elendsgeschichten zu ergehen, ich jedoch finde das ganz abscheulich, und eine der Eigenschaften des Königs, die ich besonders bewundert habe, ist seine Art, vergangene Leiden auf die leichte Schulter zu nehmen und nie
manden damit zu langweilen.) Sie erzählten uns, daß, wenn die Pest in einem Haus auftrat, alle außer dem Kranken hinausrannten, daß Mütter ihre Kinder verließen, Dienstboten ihre Herrschaften, Frauen ihre Männer, »so daß jeden Tag Hunderte ganz allein und verlassen sterben und nicht gefunden werden, so daß ihr Fleisch verfault und den Ratten zur Beute wird, die den Keim dann wieder auf die Straße tragen, und Ihr könnt Euch

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