Zeit der Sinnlichkeit
Stimme Englands geheiratet, und sie erträgt es nicht, daß er sich ihr nähert! Sie ist in seinem Haus, und doch wird er sie, solange er lebt, nie anrühren dürfen, ja, er darf nicht einmal ihr Haar küssen, und er wird nie ihre weißen Hände auf seinem flachen, häßlichen Gesicht fühlen …
»Das ist ein bißchen besser«, höre ich Violet sagen, als sie in ihren Hurenmätzchen innehält.
Schade, schade, sagt mein Herz, wie herrlich wäre es gewesen, wenn ich meine Reise von Bett zu Bett, von Meg zu Violet zu Rosie Pierpoint, an der Tür zum Rosenzimmer hätte unterbrechen können. Ich klopfe höflich an, die Tür wird geöffnet, und sie, meine Frau, zieht mich ins Zimmer, und ich sitze da und streichle ihre Füße, während sie mir vorsingt, und dann, nicht mit meiner üblichen Hast und Eile, sondern mit ruhiger Würde, stehe ich auf, küsse sie auf den Mund, und
sie legt mir die Arme um den Hals, und nirgendwo in den Korridoren der großen Häuser gibt es noch Gespött oder Mitleid, denn endlich nehme ich die Stelle des Königs ein und liebe die Frau, die er geliebt, mit der er aber mich verheiratet hat.
Ich schlafe mit Violet. Sie jault lustvoll wie ein Heide, doch ich schweige und hänge meinen neuen Gedanken nach.
Zwei Tage später – ich hatte mich gerade erst wieder von Violets Fest erholt – erinnerte mich der Reifrock kurz angebunden daran, daß Heiligabend sei.
Ich versuche, nicht allzuoft in meinem Leben an meine Mutter zu denken, weil mich nicht nur die Erinnerung an ihren Tod bedrückt, sondern auf noch viel schrecklichere Art die Erinnerung an Hoffnungen, die sie für mich hegte, und an ihren Glauben, daß sie eines Tages auf mich würde stolz sein können. An Weihnachten jedoch finde ich es schwierig, nicht an sie zu denken, und so tat ich es denn auch jetzt wieder, als das Jahr 1665 heranrückte.
Sie hätte sich am Tage von Christi Geburt »eine Extraportion Gebet« erlaubt, wie sie es nannte. Während des Bürgerkrieges betete sie für den Frieden. Immer wieder bat sie Gott, mich und meinen Vater zu verschonen. Doch an Weihnachten sprach sie mit Gott, als wäre Er ein für staatliche Bauvorhaben zuständiger Regierungsangestellter. Sie betete für reinere Luft in London. Sie betete darum, daß unsere Kamine den Januarwinden standhalten würden; sie betete darum, daß sich unser Nachbar, Mister Simkins, um seine Senkgrube kümmern würde, damit sie nicht mehr in unsere überlief. Sie betete weiter darum, daß Amos Treefeller nicht ausrutschen und ertrinken würde, »wenn er in Blackfriars die öffentlichen Stufen zum Fluß hinuntergeht, die, o Herr, sehr vernachläs
sigt und glitschig sind«. Und natürlich betete sie darum, daß die Pest nicht kommen würde.
Als ich ein Kind war, erlaubte sie mir, Gott um Dinge zu bitten, die mein Herz begehrte. Ich antwortete dann vielleicht, daß mein Herz beinerne Schlittschuhe oder ein Siamkätzchen begehrte. So saßen wir beide am Kamin und beteten. Und dann aßen wir einen Rosinenkuchen, den meine Mutter selbst gebacken hatte, und seitdem ist für mich mit dem Geschmack des Rosinenkuchens die Vorstellung des Betens verknüpft.
So saß ich dann am Weihnachtstag, an dem ich das Haus nicht verließ, weil es Stunde um Stunde von einem schwarzen Himmel regnete, allein in meinem Ruhezimmer, dachte über meine Mutter nach und versuchte mit Hilfe eines ausgezeichneten Rosinenkuchens, den ich von Cattlebury hatte backen lassen, eine Bitte an Gott zu formulieren.
Nach ungefähr einer Stunde stellte ich fest, daß ich zwar den Kuchen aufgegessen, aber noch immer kein Gebet in Worte gefaßt hatte. Die Wahrheit war, daß ich nicht wußte, worum ich eigentlich bitten wollte, oder vielmehr, ich wußte es einerseits, wußte es aber auch wieder nicht. Irgendwie verzweifelt, gab ich den Gedanken, mit Gott zu sprechen, ganz auf, kniete statt dessen am Feuer nieder, preßte meinen Kopf in einen Sessel, wo er wie im Schoß meiner Mutter ruhte, und sprach murmelnd mit ihr. »Hilf mir, meine liebe, dahingegangene Mutter«, sagte ich, »denn mir ist der Gedanke der Gegenseitigkeit gekommen. Er verursacht in mir ein Sehnen, nicht mehr Merivel, der Narr, zu sein, sondern …« (hier mußte ich eine Pause einlegen, um mir die letzten Krümel des Rosinenkuchens in den Mund zu stopfen) »… Merivel, ein richtiger Mann.«
Wie Ihr seht, war es überhaupt kein richtiges Gebet, aber es war das Beste, was ich zustande brachte, jedenfalls zunächst einmal. Ich kam
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