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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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wieder hoch von meinen Knien und wollte gerade gehen, um meinem Vogel ein wenig vorzusingen, der in diesem englischen Winter, wenn mich nicht alles täuschte, etwas dünn und zerzaust geworden war (ein weiterer Beweis dafür, daß er aus Indien kam und sich nach der Wärme des Ganges-Deltas verzehrte), als Will Gates eintrat, in der Hand einen exquisit gearbeiteten Lederkasten.
    »Etwas für Euch ist gekommen, Sir«, sagte Will, »von London und vom König.«
    Ich finde Wills Norfolk-Sprechweise immer wieder sehr amüsant. Ich nahm ihm den Kasten, der mit einem Goldstempel und einem Messingscharnier versehen war, aus der Hand und legte ihn auf einen Kartentisch aus Nußbaumholz. Dann hob ich den Deckel ab. Auf einem Samtkissen lag ein versilbertes Chirurgiebesteck.
    Will schnappte nach Luft. »Was ist das, Sir?« fragte er.
    »War ein Brief dabei? Keine Karte?«
    »Nein, Sir. Nichts. Nur der Kasten. Bitte sagt mir, was das ist, Sir Robert.«
    »Es sind chirurgische Instrumente, Will«, sagte ich. »Sie werden zum Sezieren und Schneiden verwendet. Mit diesen hier könnte man einen Blasenstein entfernen, Blut aus der vena saphena ablassen, einen Abszeß öffnen oder eine offene Wunde zusammennähen.«
    »Gott steh uns bei!« sagte Will.
    »Ja, wirklich«, erwiderte ich. »Ja, wirklich …«
    Und dann nahm ich sie nacheinander in die Hand: den Haken, die Sonde, die Kanüle, den Perforierer, den Hammer, den Osteoklasten, die Lanzette, die Spathomela und als letz
tes das Skalpell. Ich betrachtete jedes einzelne Instrument. Nie zuvor hatte ich ein so perfekt gearbeitetes Chirurgiebesteck gesehen. Ich möchte fast glauben, daß selbst Harvey und Fabricius nie ein so schönes besessen haben. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß es vom König stammte. Er hatte es nicht nötig, irgendeine Nachricht mitzuschicken. Es selbst war die Nachricht. Als ich das Skalpell auf das Samtkissen zurücklegte, sah ich jedoch, daß das Datum, Dezember 1664, in seinen Silbergriff eingraviert war, und als ich es umdrehte, sah ich auf der anderen Seite eine Gravur von drei Worten.
    Ich hielt mir das Skalpell vor die Augen und las folgende knappe Ermahnung auf dem Griff dieser schärfsten und schrecklichsten aller Klingen: Merivel, schlaft nicht.

Der Aufseher
    M it dem Januar kamen die heftigen Winde, von denen meine Mutter in ihren Gebeten für die Kamine gesprochen hatte. Die Leute in Norfolk nennen diese Stürme »die russischen Winde«, denn sie scheinen von einer steinigen, eisigen Bergkette irgendwo in Rußland (deren Namen ich wahrscheinlich nie gekannt habe) zu kommen, über die nördlichen Ozeane hinwegzufegen, um dann tage- und nächtelang wie Wölfe um unsere Häuser zu heulen.
    Wenn ich auch nicht so empfindlich auf Kälte reagiere wie beispielsweise Pearce (der schon von einem bloßen Luftzug Fieber bekommen kann), so spürte ich jetzt doch gräßliche Schmerzen in meinen Knochen, die nur dann etwas Linderung erfuhren, wenn ich in einem heißen Bade saß und Will mein Rückgrat mit einem Schwamm massierte.
    So begann ich mich zu fragen, wie die Männer und Frauen aus dem großen Rußland die eisige Kälte des Winters überlebten. Ich versuchte, mir ein Bild von diesem Volk zu machen, über das ich nichts wußte. Und so erstanden sie vor meinem Auge: Ihre Gesichter waren rot und breit, und sie alle hatten eine starke Ähnlichkeit mit dem Wirt des »Jovial Rushcutter«. Und ihre Körper – sogar die Körper der Frauen – waren auf wunderliche Weise von Pelzen aller Art umhüllt, Pelzen, die nicht zu modischen Röcken oder Mänteln verarbeitet waren, sondern einfach nur herunterhingen und -baumelten, so daß sie wie Almosenempfänger in Lumpen aussahen; doch sie schienen sich unter dieser Tierhautsammlung sehr wohl zu fühlen und recht vergnügt zu sein.
    Bei meinen gelegentlichen Besuchen bei Meg erzählte ich nun nicht mehr vom Land des River Mar, sondern begann eine Reihe frei erfundener Geschichten, die ich Merivels wahre Geschichten über Rußland nannte und die bei Meg in ihrer süßen Leichtgläubigkeit sehr gut ankamen. Doch damit nicht genug, ich stellte mir auch vor, wieviel zufriedener wir alle in Bidnold wären, wenn wir es schön warm hätten, und so gab ich bei einem alten Londoner Pelzhändler namens Jacob Trench ein großes Sortiment Pelze in Auftrag. Ich bat Trench, eine kunterbunte Mischung von Fellen zu schlichten Überwürfen zusammenzunähen, »die man einfach über den Kopf zieht, und die dann über die

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