Zeit der Sinnlichkeit
einen Brief. Es ist jedoch keine Aufforderung des Königs. Vielmehr ist es die dürftige, ungelenke Niederschrift von einem, der sich Septimus Frame, Matrose in der Handelsmarine, nennt. Die Handschrift ist so schreck
lich und zittrig, daß man meinen könnte, das Briefchen sei auf See in einem Hebridensturm geschrieben worden. Die Botschaft, die es bringt, als ich es schließlich entziffert habe, ist dramatisch. Der Brief lautet wie folgt:
»Allerfreundlichster, ehrenwertester Herr,
ich schreibe auf Bitten der Witwe Pierpoint, die das Schreiben nicht gelernt hat.
Sie ersucht mich, Euch mitzuteilen, daß ihr Mann, George Pierpoint, Kahnfahrer, an diesem letzten Mittwoch unter der London Bridge ertrunken ist, derweil er sich aus seinem Kahn beugte, um einen Schellfisch zu fangen, und fällt in den Strudel um die Stützen und ist untergegangen, verloren.
Sie möchte, daß ich Euch sage, daß sie Euch als einen sehr gütigen Mann kennt. Sie bittet Euch, daß Ihr daran denkt, daß sie Kohle für ihre Bügeleisen und ihre Waschkessel kaufen muß, wenn sie nicht in Armut enden will, vielleicht in einem Armenhaus.
Daher bittet sie mich, Euch um die Gabe von dreißig Shilling zu ersuchen; als Dank dafür segnet sie Euch und bezeugt, daß Ihr ein anständiger und wohltätiger Mann seid.
Von einem demütigen Diener der Nation,
Septimus Frame, Matrose in der Handelsmarine«
Pierpoint ist also ertrunken! Der weise Fluß wird nichts mehr von seinen Bübereien, Betrügereien und von seiner unflätigen Sprache hören, sondern hat ihn in die Tiefe gerissen. Und Rosie ißt ihre kleinen Abendmahlzeiten aus Brot und Wellhornschnecken allein …
Die Neuigkeit von seinem Tod muntert mich kurz auf. Ich stelle mir einen Augenblick vor, wie der springende Schell
fisch durch Pierpoints rauhe Hände schlüpft und der Kahn, als Pierpoint ins Wasser fällt, von der Strömung davongetrieben wird. Laut flüstere ich: »Da war kein Aufseher!«, doch es ist mir nicht ganz klar, was ich damit meine. Ich weiß nur, daß ich kein Mitleid mit Pierpoint empfinde. Ich bin froh, daß sein Leben zu Ende gegangen ist.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre mein erster Gedanke beim Erhalt eines solchen Briefes gewesen, nach London zu eilen, um in Rosies heiße Hand das erbetene Geld zu drücken und mir freudig für ein paar stürmische Nächte den Platz ihres Mannes in ihrem Bett anzueignen. Doch wie die Dinge nun einmal liegen, fühle ich mich zu elend, zerknirscht, verwirrt, liebeskrank und ängstlich, um mich aus dem Haus bewegen zu können. Meine Leidenschaft hat mich zum Schiffbrüchigen werden lassen. In der Ferne glaube ich, die Kanonenschüsse einer großen portugiesischen Galeere zu hören. Ich muß mit meinem Entschuldigungsbrief fortfahren …
Jetzt begreife ich, warum ich ihn nicht schreiben kann. Ich kann ihn nicht schreiben, weil er mit einem Versprechen enden muß, das ich nicht geben kann. Ich bilde den Satz: »Bei meiner Ehre verbürge ich mich, Euch niemals wieder, solange Ihr es nicht wünscht, anzurühren oder Euch Erklärungen über Gefühle aufzunötigen, von denen ich weiß, daß sie Euch äußerst zuwider sind«, aber schon beim Schreiben wüßte ich, daß ich nicht zu meinem Wort stehen würde. Ich weiß, daß es in meiner Natur liegt, daß irgendwann einmal ebendiese Wörter aus mir herausbrechen werden, die meine Frau nicht hören will. Ich fühle bereits, wie sich das Explosionsgemisch wie Eiter in meinem Herzen ansammelt. Ist eine unerwiderte Liebe auf die Dauer für den Liebenden tödlich?
Werde ich den ertrunkenen Pierpoint wiedersehen, bevor ich bei meiner eigenen Frau gelegen habe? (Wie sehr ich mich für mein Selbstmitleid verachte!)
»Meine liebste Rosie«, schreibe ich, obwohl ich weiß, daß sie nicht lesen kann, aber ich muß meine Gedanken jetzt unbedingt einem Freund mitteilen. »Ich sende Dir mit dieser Sammlung Merivelschen Gefasels eine japanische Geldbörse mit dreißig Shilling Inhalt. Die Börse selbst stellt einen gewissen Wert dar; sie gehört Dir, Du kannst sie behalten oder verkaufen, ganz wie Du willst. Daß Pierpoint ertrunken ist, tut mir leid. Es ist höchst bedauerlich, wegen eines Schellfischs zu sterben.
Ich würde nach London reisen, um Dich wegen des Verlustes Deines Ehemannes zu trösten, doch ich scheine in eine tiefe Melancholie und ein körperliches und geistiges Unbehagen gefallen zu sein, so daß ich mich nicht in der Lage fühle, mein Zimmer zu verlassen. Wo ich,
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