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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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dem Blickfeld verschwindet, um sich nur um so heftiger daran zu erinnern, wenn man ihn das nächste Mal wiedersieht. (Ich frage mich manchmal, ob es seiner Frau und seinen Kindern genauso geht, daß ihn seine Familie also am liebsten hat, wenn er nicht bei ihnen ist.)
    Zu der vollfleischigen Derbheit seiner Züge kommt noch eine bösartige Schuppenflechte auf seiner linken Wange, die Dégueulasse mit der Hand zu verdecken sucht. Das zu sehen, schmerzte mich. Es gab doch irgendein Heilmittel, überlegte ich, aber ich hatte natürlich vergessen, was es war. Und außerdem war er ja gekommen, um die Rolle des Arztes zu spielen, nicht ich. Er schien sich aufrichtig Sorgen zu machen (»es heißt, daß Ihr seit jener Nacht Eurer Abendeinladung nicht mehr der alte seid«) und stellte eine Flasche mit einem grünen Saft vor mich hin. »Habe ich von einem Scharlatan, einem richtigen Quacksalber!« erklärte er. »Nicht die Threepence wert, die es gekostet hat!«
    »Nun«, sagte ich, »warum bringt Ihr mir dann den Saft, Mister de Gourlay?«
    »Weil er das wirksamste Mittel gegen Melancholie ist, das je gebraut worden ist.«
    »Und doch sagtet Ihr, er sei den kleinen Betrag, den Ihr dafür ausgegeben habt, nicht wert …«
    »Das ist richtig! Und was glaubt Ihr nun, Sir Robert? Ist er wertlos oder nicht mit Gold aufzuwiegen?«
    »Ich glaube keines von beidem …«
    »Sehr weise.«
    »Solange ich nichts davon eingenommen habe …«
    »Genau. So setzt Ihr keine Erwartungen in ihn? Ihr seid neutral?«
    »Ja.«
    »Ihr glaubt in gleichem Maße, daß seine Eigenschaften wertlos sind, wie, daß sie eine wundersame Heilwirkung haben?«
    »Ich glaube weniger an die Heilwirkung.«
    »Aber Ihr räumt ein, daß sie immerhin möglich ist?«
    »Ja.«
    »Ausgezeichnet. Und Ihr versprecht mir, daß Ihr etwas davon einnehmt, bevor Ihr schlafen geht?«
    »Ja, das tue ich.«
    De Gourlay setzte sich. Er strahlte. Das habe ich auch schon bei anderen Menschen bemerkt: Geheimes Wissen läßt sie lächeln. Es ist das Lächeln der Macht. Es regt mich jedesmal auf, doch an diesem Tag fesselte mich der Gedanke, daß Dégueulasse ein kleines Spiel mit mir spielte. Ich fragte mich gerade, worum es dabei eigentlich ging, als Dégueulasse seinem dicken Bauch einen kameradschaftlichen Klaps gab und erklärte: »Erwartung, seht Ihr! Die Hure der Vernunft! Sie klammert sich doch bei uns allen an den Hals, n'est-ce pas? «
    »Ihr mögt recht haben.«
    »Ich habe recht. Nehmen wir Eure Soiree, die so kurzfristig abgesagt wurde. Ich kann Euch nicht beschreiben, welche Erwartungen im Hinblick auf ihr Glück und ihre Zukunft meine Frau und meine Töchter in sie gesetzt hatten!«
    »Es tut mir leid …«
    »Nein, nein! Ihr müßt Euch nicht entschuldigen. Niemand hatte meiner Frau gesagt, daß bedeutende und einflußreiche Männer vom Hofe dasein würden, die aufgrund dieses einen Abends unser Vermögen um dreitausend Pfund pro Jahr vermehren würden. Niemand hatte meinen Töchtern versprochen, daß sie an Eurer Tafel Söhne des Marquis oder junge Neffen des Prinzen Rupert treffen würden. Und doch war es eben das, was sie sich erhofften! Und als sie hörten, daß der Abend ausfallen mußte, wißt Ihr, was sie da taten, alle drei? Sie fingen zu weinen an!«
    »Nun«, sagte ich, »ich bedaure, daß keine hochgestellten Persönlichkeiten vom Hofe oder Verwandte von Rupert zugesagt hatten zu kommen.«
    »Ich glaubte auch nicht, daß welche kommen würden, oder vielmehr glaubte ich es und glaubte es auch wieder nicht, in genau dem gleichen Maße, und so hatte ich für mich selbst überhaupt keine Hoffnung damit verknüpft.«
    »Höchst weise, muß ich schon sagen.«
    »Genau. Nun fühlt Euch frei, mir anzuvertrauen, was mit Euch geschehen ist, falls Ihr das gerne möchtet. Ich bin ein Mann ohne jede Weisheit. Andererseits glaubt meine Mutter, daß ich einer der klügsten Leute bin, die je in Norfolk gelebt haben.«
    Dégueulasse lachte herzlich. Es war das erste Mal seit vielen Tagen, daß ich Lachen hörte, und es hallte höchst merkwürdig im Raum wider, wie ein Echo oder ein Schall, der
aus dem Wasser emporstieg. Es hörte wieder auf, so daß Stille im Zimmer herrschte, und in dieser Stille, in der mein Blick auf der verkrusteten, entzündeten Haut von de Gourlays Wange lag, fiel mir das Heilmittel für die Schuppenflechte wieder ein, und ich sagte: »Leider weiß ich nicht, was mit mir geschehen ist. Deswegen kann ich mich niemandem anvertrauen. Dafür weiß ich,

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