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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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herüber, nicht einmal, um die Fackel anzuknurren oder anzufau
chen. Ich dachte: Ich wäre lieber einer von euch in diesem Käfig als Merivel. Und ich dachte: Ihr habt keine Erinnerung an Afrika oder die Sonne oder eine Zeit davor. Deshalb wäre ich lieber einer von euch.
     
    Sehr spät, als die Straßen, abgesehen vom Herumschreien einiger Betrunkener, still waren, stand ich vor Rosie Pierpoints Tür. Ich klopfte, und hörte mein Klopfen wie ein Echo. Während ich wartete, dachte ich an die japanische Geldbörse und die dreißig Shilling und den halbfertigen Brief, den ich nie abgeschickt hatte.
    Sie kam an die Tür, einen Schal um sich geschlungen, mit ängstlichem Blick. Hübsche Rosie. Mit ihr hatte ich die Süße des Vergessens entdeckt.
    Doch dann erhellte sich ihr Gesicht. »Sir Robert«, sagte sie, »wo ist Eure Perücke?«
    Ich hatte sie verloren. So schien es mir jedenfalls. Ich konnte mich nicht erinnern, sie abgenommen zu haben.
     
    Als sie beim Schein des ersten Tageslichts aufstand, wachte ich auf. Und hatte eine kleine neue Einsicht: Die Armen machen einen anderen Gebrauch von der Zeit als ich. Sie können den Tag nicht mit künstlich erzeugtem Licht verlängern, da die Kosten für Kerzen und Öl zu hoch sind.
    Ich lag auf meinem Rollbett und beobachtete sie. Sie goß kaltes Wasser in eine Schüssel, nahm ein paar Lappen in die Hand und wusch sich: ihr Gesicht, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Möse und ihre Kniekehlen. Und diese heimliche Morgentoilette im Halbdunkel bewegte mich sehr stark. Ich hatte den Wunsch, ihr irgendwie nützlich zu sein (im Bett war ich es in dieser Nacht nicht gewesen). So stand ich auf, zog mei
ne Strümpfe und mein Hemd an und ging hinunter in ihren Wäschereiraum, wo ich das Feuer in ihrem Ofen schürte und Kohle auflegte. Ich stellte mich dabei jedoch so jämmerlich an, daß ich Kohlebrocken über den Boden schlittern ließ, die ich dann einen nach dem anderen wieder einsammeln mußte. Und ich erinnerte mich daran – aus meiner Zeit in Cambridge und meinem möblierten Zimmer in Ludgate –, daß schwarzer Kohlestaub nicht wie Staub, sondern wie eine Paste ist, feucht und klebrig, und daß man, wenn man ein Kohlefeuer unterhielt, ständig saubermachen und waschen mußte.
     
    Die Sonne ging über dem Fluß auf, doch sie lag flach hinter einem Dunstschleier. Rosie machte einen Haferbrei mit Milch, und ich versuchte ihr zuliebe etwas von diesem Zeug zu essen, aber er und der Blechlöffel waren ein so graues Bild vor meinen Augen, daß ich im Geiste das Schluchzen und Jammern des alten Merivel nach den Farben und dem Glanz all dessen, was er verloren hatte, hören konnte.
    Wir hatten nicht über Pierpoint gesprochen, nur über mich und meine Schwierigkeiten. Doch jetzt, während sie gierig ihren Haferbrei aß, begann sie zu meinem Erstaunen, eine kleine Lobeshymne auf ihren toten Mann anzustimmen, sagte mir, was für ein starker Mann er gewesen sei, wie gleichgültig reichen Leuten und wie treu dem Fluß und seinen Menschen gegenüber. Als er noch lebte, wollte ich zu Rosie sagen, hattest du kaum ein freundliches Wort für ihn übrig und lebtest in ständiger Angst vor seinen Wutanfällen und Grausamkeiten, wenn er betrunken war. Doch ich sprach es nicht aus, vermerkte nur im stillen bei mir, daß der Tod den Ruf eines Menschen beträchtlich verändern kann: Sobald
er tot ist, wird er zu dem, der er hätte sein sollen, als er noch lebte. Und ich fragte mich, ob sich im nachhinein des Königs Erbitterung über mich in liebevolle Traurigkeit und Celias Widerwille gegen mich in eine kleine Liebe verwandelt hätten, wenn ich tapfer genug gewesen wäre, mich den Löwen im Tower zum Abendfraße vorzuwerfen. All dies ging mir durch den Kopf, während Rosie von ihrem ertrunkenen Kahnfahrer sprach. Pierpoint war gestorben, als er versucht hatte, einen Schellfisch mit den Händen einzufangen, mit anderen Worten, als er Nahrung beschaffen wollte; ich wäre bei meinem Phantasietod selbst zu Nahrung geworden. Ist jeder dieser Tode nobel, oder sind beide lächerlich und lachhaft? Könnte ein so kultivierter Mensch wie Celia Zuneigung für einen Ehemann empfinden, der erst zu einem Fressen und dann zu Dung geworden ist? Ich wußte es nicht. Mein Geist war wohl vollgestopft mit Fragen, hielt aber kaum eine Antwort bereit. Wie der Haferbrei vor mir schien auch mein Verstand langsam zu erkalten.
     
    Ich konnte nicht bei Rosie bleiben. Einstmals war unsere Liebe feurig gewesen. Jetzt war

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