Zeit der Skorpione: Laura Gottberg ermittelt (German Edition)
passte auch. Das «Einweichen» ereilt sie nicht nur im Ewigen, dachte Guerrini. Viele weicht es schon im kurzen Leben ein. Er lächelte über die antiquierten Sätze, die so ungeniert zeitlose Wahrheiten verkündeten. Kein Wunder, dass der Dichter aus Florenz verschwinden musste, denn die Mächtigen ließen sich auch damals nicht gern ihre «blinde Gier» und ihr «unverständig Wüten» um die Ohren hauen. Kein Wunder auch, dass Dante Alighieri noch immer so beliebt war in seiner Heimat, war er doch nach Jahrhunderten noch äußerst aktuell.
Er war einer wie Roberto Saviano. Zwar war der kein Dante, aber er sprach genauso unerschrocken Klartext, ein Flüchtling vor der Rache der Mächtigen auch er. Eine der vielen Wiederholungen der Geschichte.
Draußen, über den Dächern von Siena, begannen die Vögel zu singen, das erste graue Morgenlicht drang in Guerrinis Schlafzimmer. Wieder einmal war die schwarzweiße Stunde angebrochen, in der es keine Farben gab.
Noch immer konnte er nicht einschlafen, obwohl sein Körper sich nach Ruhe sehnte. Sein Kopf schien unabhängig vom Körper, ja gegen ihn zu arbeiten. Ein klarer Kopf, der sich nicht ausschalten ließ und einfach weiterdachte, obwohl Guerrini das nicht wollte. Unkonzentrierte Gedanken, wirr, von einem Einfall zum anderen springend.
Ob Paolo Massimo schlafen konnte? In seiner Einzelzelle? Vermutlich nicht. Ob Staatsanwalt Cichetto schlief? Ziemlich sicher, er hatte so zufrieden ausgesehen, als der Haftrichter der vorläufigen Festnahme Massimos zustimmte.
Zuvor hatten sie noch den Auftritt des Rechtsanwalts aus Turin über sich ergehen lassen müssen. Er war nicht um Mitternacht, sondern erst um zehn nach zwei Uhr morgens angekommen. Angeblich hatte er wegen eines Unfalls in der Nähe von Bologna Stunden im Stau gestanden. Zum Glück war er offensichtlich ebenso müde gewesen wie alle anderen Beteiligten, denn nach einer kurzen und heftigen Verteidigungsrede über seinen Mandanten und einem üppigen Kautionsangebot, das vom Haftrichter abgelehnt wurde, wollte er offensichtlich ins Bett und sich erst am folgenden Tag mit allen Einzelheiten befassen.
«Vernünftiger Mensch!», hatte Tommasini gesagt und war erleichtert nach Hause gegangen. Jetzt schlief vermutlich auch er. Neben seiner Frau. Ob Tommasini schnarchte? Oder sie? Es war Guerrini, als müsste er diesen Unsinn denken, damit er selbst nicht schlafen konnte.
Draußen begannen sich die ersten Tauben zu rühren, und ein paar Spatzen waren aufgewacht und tschilpten vor sich hin, als hätten sie ein Programm zu erledigen … hundertfünfzigmal Tschilpen als Morgenübung.
Laura. Wenn sie neben ihm läge, dann könnte er sicher schlafen. Sie würde ein Bein über seine Hüfte legen, eine Hand auf seine Brust, würde im Halbschlaf lächeln. Ihre Wärme würde auf ihn übergehen und ihn beruhigen. Er stellte sich Lauras Schlafzimmer in ihrer Münchner Wohnung vor und dachte an die Zeit, die sie in den letzten Monaten gemeinsam verbracht hatten.
Beinahe vier Wochen, die er nach seiner Rehabilitationskur freigehabt hatte. Es war merkwürdig gewesen, zu Hause zu bleiben, während sie arbeitete. Ein schönes Essen vorzubereiten und dann mit Sofia, Lauras Tochter, allein zu Abend zu essen, weil sie einen dringenden Fall bearbeiten musste. Unvermutet war er zum Hausmann geworden und konnte das nur sehr begrenzt genießen. Aber ein bisschen, immerhin.
Allein hatte er München durchstreift, Museen, Kirchen, Ausstellungen, Straßen im Regen, Straßen im Sonnenschein, Straßen voll Schneematsch, voll Eis. Auch viele Münchner Cafés hatte er kennengelernt, ausführlich Zeitung gelesen, ein bisschen Deutsch gelernt.
Und er hatte sich immer wieder mit Lauras Vater Emilio getroffen. Den alten Herrn mochte er sehr. Mit seiner beinahe rührenden Ernsthaftigkeit erinnerte er Guerrini an den derzeitigen Präsidenten Italiens. Genau wie dieser, regte er sich über die Verrücktheit der Welt auf, ganz verzweifelt, weil er nichts dagegen tun konnte. Es war eine gute Zeit gewesen in München – und auch wieder nicht.
Weihnachten hatte er allein mit Laura verbracht, weil ihre Kinder in England feierten. Sie hatten es genossen, und trotzdem schien Laura auch gelitten zu haben. In der Mitternachtsmette der Maria-Hilf-Kirche hatte sie plötzlich geweint. Es war ihr erstes Weihnachtsfest ohne Sofia und Luca gewesen.
«Ich weine immer in Mitternachtsmetten», hatte sie schluchzend erklärt. «Ich sollte nicht hingehen!»
Er
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