Zeit der Skorpione: Laura Gottberg ermittelt (German Edition)
würden Beschuldigungen gegen ihn vorbringen, mit Namen, Einzelheiten und allem, was dazugehörte. Guerrinis ehemaliger Gegner würde sicher mit großer Freude mitmachen, und dann hätte er ein Untersuchungsverfahren am Hals, das sich endlos hinziehen konnte. Er wäre vom Dienst suspendiert, ginge am besten gleich in Pension, zumindest so lange, bis man ihm die Pensionsansprüche absprechen würde, weil sich der Verdacht gegen ihn erhärtet hätte. Mit genügend finanziellen Schmiermitteln wäre es ein Leichtes, dubiose Figuren dazu zu bringen, falsch gegen ihn auszusagen.
Wenn er Massimo dagegen ein «Angebot» machen würde, begäbe er sich in die Hände des Bankers und wäre verpflichtet, ihm auch in Zukunft gewisse Dienste zu erweisen. Die Situation war ausgesprochen traumatisch.
«Trauma Nummer 4», murmelte Guerrini, ging in die Küche und füllte sein Glas ein zweites Mal. Nicht mit Brunello, aber immerhin mit Rosso di Montalcino. Er hatte noch nichts gegessen und fühlte, wie ihm der Wein zu Kopf stieg. Nein, diese Entwicklung war nicht abzusehen gewesen, als er zur Überprüfung des anonymen Anrufs nach Bagno Vignoni gefahren war. Paolo Massimo gehörte zu den Persönlichkeiten, mit denen man sich in diesem Land nicht anlegen sollte.
Guerrini ging in seiner Küche auf und ab, schenkte sich ein drittes Glas Wein ein, aß diesmal etwas Käse dazu und dicke Scheiben Salami. Brot war keines mehr da. Er fand nur ein paar Grissini, die er im Gehen kaute – er war einfach zu unruhig, um sich zu setzen.
Er hatte es so verdammt satt! Im Augenblick fiel ihm kein anderer Ausweg ein, als zum Questore zu gehen und diesen Fall abzugeben. Aber nicht einmal dann konnte er sicher sein, dass Massimo seine Idee vom Mitmärtyrer aufgeben würde. Vielleicht war der Mann ja ein Psychopath, der seine Pläne eiskalt zu Ende brachte.
Er könnte Richter Passalacqua fragen, ob man Massimo unter bestimmten Auflagen wieder in seine Bank lassen könnte. Aber das wäre schon wieder ein «Angebot» und würde bedeuten, dass er sich auf die Drohungen einließ. Diese unglaubliche Behauptung, er hätte Verhandlungsbereitschaft signalisiert! Nein, die klarste und sauberste Lösung war es, den Fall abzugeben und mit dem Questore zu reden, auch wenn sie nicht bedeutete, dass er Massimo los wäre.
Zerstreut griff Guerrini nach Dantes Göttlicher Komödie , in der er jeden Abend ein paar Verse las. Er schlug sie irgendwo auf und landete bei Inferno, Fünfter Gesang:
So stieg ich nieder aus dem ersten Kreis
zum zweiten, der geringern Raum umfasst,
doch umso größre Qual, voll Schmerzensschreien.
Minos steht dort, mit grausem Zähnefletschen;
beim Eingang prüft er alle die Vergehen,
urteilt und schickt, je wie er sich umschlingt.
«Grazie!», sagte Guerrini. «Das reicht, um Trauma Nummer 5 auszulösen!» Er klappte das Buch wieder zu, dachte nach und beschloss, seinen Vater anzurufen. Es war ein guter Zeitpunkt, um endlich die alten Geschichten auf den Tisch zu bringen! Wie ging es bei Dante weiter? Guerrini schlug das Buch noch einmal auf:
Ich sage, wenn die schlecht geborne Seele
vor ihm steht, öffnet sie sich ganz und gar,
und dieser, der die Sünden all erkennt,
sieht, welcher Raum der Hölle ihr gebührt …
Zum ersten Mal an diesem Tag musste er lachen. Er trank den Rest seines dritten Glases Rotwein aus und wählte die Nummer des alten Guerrini.
«Pronto!» Fernandos Stimme klang nicht besonders freundlich.
«Buona sera, papà. Ti disturbo?»
«No!» Der alte Guerrini klang noch immer nicht freundlicher.
«Wie geht’s dir denn?»
«Wieso interessiert dich das auf einmal? Es hat dich fast drei Wochen lang nicht interessiert!»
«Ich hatte viel zu tun.»
«Ja, mit diesem Leichenfledderer Salvia in Tommasinis Osteria zu essen, das nenne ich viel zu tun haben.»
«Seit wann überwachst du mich, eh?»
«Ich mache gar nichts! Meine Nachbarin Maria hat dich gesehen, und sie hat es mir erzählt.»
«Bene, vergessen wir das.»
«Warum sollen wir das vergessen, eh? Warst du mit Salvia essen oder nicht?»
«Natürlich war ich mit ihm essen, und es war ausgezeichnet. Ich will diese Sache nur nicht mit dir diskutieren, als müsste ich dich um Erlaubnis bitten, wenn ich mit einem Freund zum Essen gehe.»
«Musst du auch nicht.»
«Na bitte, warum reden wir dann darüber?»
«Weil du seit drei Wochen nicht mehr bei mir zum Essen warst, und ich koche mindestens so gut wie Tommasini oder seine Frau!» Fernandos Stimme hatte
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