Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
sich abwandte. »Entschuldige mich.«
Er wäre gegangen, doch er zögerte eine Sekunde zu lange, weil er weder in das Zimmer hinaufgehen wollte, in dem sich Lillie nicht länger befand, noch wollte er launisch erscheinen, indem er einfach auf die Straße lief. Jared erhob sich und trat entschlossen zu ihm.
»Ich bin auch nicht besonders hungrig, a charaidh «, sagte Jared und nahm ihn beim Arm. »Komm, setz dich ein bisschen zu mir und trink einen Schluck Whisky. Das wird deinen Magen beruhigen.«
Eigentlich war ihm nicht danach, doch ihm fiel auch nichts anderes ein, und wenige Augenblicke später fand er sich vor einem duftenden Apfelholzfeuer wieder und hatte ein Glas mit dem Whisky seines Vaters in der Hand, und beides gemeinsam linderte ihm wärmend die Enge in Brust und Kehle. Es würde seinen Schmerz nicht heilen, aber es ermöglichte ihm das Atmen.
»Wirklich gut«, sagte Jared und roch vorsichtig, aber beifällig an seinem Glas. »Sogar so roh. Wenn er ein paar Jahre gereift ist, wird er großartig sein.«
»Aye. Onkel Jamie weiß, was er tut; er sagt, in Amerika hat er schon öfter Whisky hergestellt.«
»Dein Onkel Jamie weiß meistens, was er tut«, sagte Jared glucksend. »Nicht dass ihn dieses Wissen vor Schwierigkeiten bewahren würde.« Er machte es sich auf seinem abgenutzten Ledersessel bequemer. »Ohne den Aufstand wäre er wahrscheinlich hier bei mir geblieben. Aye, nun ja …« Der alte Mann seufzte bedauernd und hob sein Glas, um den Whisky zu betrachten. Noch war er fast so hell wie Wasser – er befand sich ja erst ein paar Monate im Fass –, doch er hatte das etwas zähflüssige Aussehen eines ordentlichen Hochprozentigen, als könnte er aus dem Glas klettern, wenn man den Blick abwandte.
»Und wenn er geblieben wäre, wäre ich wohl selbst nicht hier«, sagte Michael trocken.
Jared sah ihn überrascht an.
»Och! Ich wollte doch damit nicht sagen, dass du ein schlechter Ersatz für Jamie bist, Junge.« Er lächelte schief, und seine Augen wurden feucht unter den schweren Lidern. »Ganz und gar nicht. Du bist das Beste, was mir je widerfahren ist. Du und die liebe Lillie und …« Er räusperte sich. »Ich … nun, ich kann nichts sagen, was dir helfen wird, das weiß ich. Aber es wird … nicht für immer so bleiben.«
»Nicht?«, sagte Michael trostlos. »Aye, das muss ich dir wohl glauben.« Schweigen legte sich über sie, unterbrochen nur vom Zischen und Knacken des Feuers. Lillies Namen zu hören war wie ein Dorn, der sich in sein Brustbein bohrte, und er trank noch einen Schluck Whisky, um den Schmerz zu stillen. Vielleicht hatte Jared recht damit, ihm den Whisky ans Herz zu legen. Er half, aber nicht genug. Und die Hilfe war nicht von Dauer. Er war es müde, mit schmerzendem Kopf und schmerzendem Herzen zu erwachen.
Seine Gedanken, die vor der Erinnerung an Lillie zurückscheuten, hefteten sich stattdessen an Onkel Jamie. Er hatte ebenfalls seine Frau verloren, und nach allem, was Michael danach gesehen hatte, hatte es ihm die Seele entzweigerissen. Dann war sie durch irgendein Wunder zu ihm zurückgekehrt, und er war ein verwandelter Mann gewesen. Doch in der Zwischenzeit … hatte er irgendwie überlebt. Er hatte einen Weg gefunden zu existieren.
Bei dem Gedanken an Tante Claire empfand er einen Hauch von Trost … solange er nicht allzu viel über die Dinge nachdachte, die sie der Familie erzählt hatte. Wer – oder was – sie war und wo sie gewesen war, während sie diese zwanzig Jahre lang verschwunden blieb. Die Geschwister hatten sich hinterher darüber unterhalten; der jüngere Jamie und Kitty glaubten kein Wort davon, Maggie und Janet waren sich nicht sicher – aber sein Bruder Ian glaubte es, und darauf gab Michael viel. Und sie hatte ihn angesehen – geradewegs –, als sie sagte, was in Paris geschehen würde.
Als er sich jetzt daran erinnerte, empfand er nach wie vor dasselbe Grauen. Der große Schrecken. So wird man es nennen, und genau das wird es sein. Man wird die Leute grundlos festnehmen und sie auf der Place de la Concorde enthaupten. Auf den Straßen wird das Blut fließen, und niemand – niemand – wird davor sicher sein.
Er sah seinen Vetter an; Jared war ein alter Mann, auch wenn er noch bei bester Gesundheit war. Er wusste, dass es unmöglich war, Jared zu überreden, Paris und seinen Weinhandel zu verlassen. Doch es würde ja noch eine Weile dauern – wenn Tante Claire recht hatte. Er brauchte jetzt nicht darüber nachzudenken. Aber sie
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