Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
Furchtbares aus?
Als sei der Gedanke an den Mann ein Signal für die Stimme gewesen, erklang sie erneut.
Sag ihm, er soll es nicht tun , wiederholte die Stimme in ihrem Kopf und klang äußerst drängend. Sag ihm, er darf es nicht!
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen …« Joan klammerte sich an ihren Rosenkranz und stotterte die Worte, während sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Da war er, der Mann mit dem taubengrauen Rock, und sah sie über einen Stand mit holländischen Tulpen und gelben Forsythienzweigen hinweg neugierig an.
Zwar konnte sie den Bordstein nicht unter ihren Füßen spüren, doch sie bewegte sich auf den Mann zu. Ich muss es tun , dachte sie. Es spielt keine Rolle, wenn er mich für verrückt hält …
»Tut es nicht«, platzte sie heraus, als sie dem erstaunten Herrn direkt gegenüberstand. »Ihr dürft es nicht tun!«
Dann machte sie kehrt und lief davon, und Schürze und Schleier flatterten wie Flügel.
RAKOCZY KONNTE NICHT ANDERS, als sich die Kathedrale als lebendes Wesen vorzustellen. Eine gigantische Version eines ihrer eigenen Wasserspeier, der über der Stadt hockte. Als Beschützer oder als Bedrohung?
Notre Dame de Paris erhob sich schwarz über ihm und verdeckte das Licht der Sterne, die Schönheit der Nacht. Sehr treffend. Er hatte immer schon gedacht, dass einem die Kirche die Sicht auf Gott versperrte. Dennoch ließ ihn der Anblick der monströsen Kreatur aus Stein trotz seines warmen Umhangs erschauern, als er jetzt in ihren Schatten eintauchte.
Vielleicht waren es ja die Steine der Kathedrale selbst, die so bedrohlich auf ihn wirkten? Er hielt inne, blieb einen Herzschlag stehen, dann schritt er auf die Wand der Kirche zu und presste die Handflächen flach gegen den kalten Sandstein. Unwillkürlich schloss er die Augen und versuchte, sich ins Innere des Steins vorzutasten. Zunächst nichts. Doch er wartete, drang in Gedanken weiter vor, wiederholte die Frage: Bist du da?
Es hätte ihm Todesangst eingejagt, wenn er eine Antwort bekommen hätte, und das, was er empfand, als er keine bekam, war viel mehr Erleichterung als Enttäuschung. Dennoch sah er, als er schließlich die Augen öffnete und die Hände fortzog, eine Spur blauen Lichts, nur einen Hauch, ganz kurz zwischen seinen Fingerknöcheln aufleuchten. Das erschreckte ihn, und er hastete davon und versteckte seine Hände unter dem schützenden Umhang.
Das kann doch nicht sein, redete er sich ein. Er hatte das schon öfter getan, hatte dieses Licht hervorgerufen, wenn er die Edelsteine in der Hand hielt, die er zum Reisen brauchte, und die Worte darüber sprach – seine eigene Version einer Segnung, vermutete er. Er wusste nicht, ob die Worte notwendig waren, doch Mélisande hatte sie benutzt; er hatte Angst, es nicht zu tun.
Und doch. Irgendetwas hatte er dort gespürt. Ein Gefühl von etwas Schwerem, Reglosem. Nichts, was Ähnlichkeit mit Gedanken gehabt hätte, von Worten ganz zu schweigen, Gott sei Dank. Er bekreuzigte sich unwillkürlich, dann schüttelte er den Kopf, bestürzt und gereizt.
Dennoch. Irgendetwas . Etwas, das immens war und sehr alt. Ob Gott die Stimme eines Steins hatte? Dieser Gedanke beunruhigte ihn noch mehr. Die Steine dort in der Kalkmine, der Lärm, den sie machten – war es am Ende Gott, den er erblickte in jener fürchterlichen Leere?
Eine Bewegung im Schatten vertrieb all diese Gedanken auf der Stelle. Der Frosch! Rakoczys Herz zog sich zusammen wie eine Faust.
»Monsieur le Comte«, sagte eine belustigte, raue Stimme. »Ich sehe, dass es die Jahre gut mit Euch gemeint haben.«
Raymond trat ins Licht der Sterne und lächelte. Sein Anblick war verblüffend; Rakoczy hatte sich dieses Zusammentreffen so lange ausgemalt, dass die Wirklichkeit irgendwie nicht mithalten konnte. Kurz gewachsen, breitschultrig, mit langem, losem Haar, das ihm aus der kräftigen Stirn fiel. Ein breiter, beinahe lippenloser Mund. Raymond, der Frosch.
»Warum seid Ihr hier?«, entfuhr es Rakoczy.
Maître Raymonds Augenbrauen waren schwarz – sie waren doch vor dreißig Jahren weiß gewesen? Eine davon hob sich jetzt verwundert.
»Mir wurde gesagt, Ihr würdet nach mir suchen, Monsieur.« Er breitete die Hände aus, eine elegante Geste. »Da bin ich.«
»Danke«, sagte Rakoczy trocken. Allmählich fand er die Fassung wieder. »Ich habe gemeint, warum seid Ihr in Paris?«
»Jeder muss doch irgendwo sein, nicht wahr? Man kann
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