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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Wellenlinien auf ihn zu. Unwillkürlich streckte er die Hand aus, um sie zu fangen, damit sie nicht auf den Boden fiel.
    Der Gouverneur sah sie, stieß einen Schrei aus und warf sich vom Tisch zurück. Grey sah ihn erstaunt an, während sich die kleine Schlange um seine Finger ringelte.
    »Sie ist doch nicht giftig«, sagte er, so geduldig er konnte. Zumindest glaubte er das nicht. Sein Freund Oliver Gwynne war Naturphilosoph und ganz verrückt nach Schlangen. Gwynne hatte ihm einmal im Lauf eines haarsträubenden Nachmittags sämtliche Prachtstücke seiner Sammlung gezeigt, und er glaubte, sich daran zu erinnern, dass Gwynne ihm gesagt hatte, es gäbe auf der Insel Jamaica keinerlei Giftschlangen. Außerdem hatten alle gefährlichen Schlangen dreieckige Köpfe, während die der harmlosen Tiere stumpfnasig waren wie der dieses kleinen Kerls.
    Warren war nicht geneigt, sich einen Vortrag über die Physiognomie der Schlangen anzuhören. Zitternd vor Angst wich er an die Wand zurück.
    »Woher?«, keuchte er. »Woher kommt sie?«
    »Sie lag schon auf dem Tisch, als ich gekommen bin. Ich … äh … dachte, sie wäre …« Nun, sie war eindeutig kein Haustier, geschweige denn Teil der Tischdekoration. Er hüstelte und stand auf, um die Schlange durch die Glastür zur Terrasse ins Freie zu bringen.
    Doch Warren verstand ihn falsch, und als er ihn mit der Schlange, die sich zwischen seinen Fingern wand, näher kommen sah, stürzte er seinerseits zur Glastür hinaus, überquerte in Riesensätzen die Terrasse und rannte mit wehenden Rockschößen über den Steinweg, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her.
    Grey starrte ihm immer noch ungläubig nach, als es hinter ihm diskret hüstelte und er sich umwandte.
    »Gideon Dawes, Sir.« Der Sekretär des Gouverneurs war ein kurz gewachsener, rundlicher Mann mit einem rosigen Kugelgesicht, das wahrscheinlich normalerweise sehr fröhlich war. Im Moment trug es einen Ausdruck tiefsten Argwohns. »Ihr seid Oberstleutnant Grey?«
    Grey hielt es für unwahrscheinlich, dass es in diesem Moment auf dem Gelände des King’s House eine ganze Heerschar von Männern mit der Uniform und den Rangabzeichen eines Oberstleutnants gab, doch er verbeugte sich und murmelte: »Euer Diener, Mr. Dawes. Ich fürchte, Mr. Warren wurde … äh … unpässlich.« Er wies kopfnickend auf die offene Glastür. »Vielleicht sollte ihm jemand nachgehen?«
    Mr. Dawes schloss mit schmerzvoller Miene die Augen, dann seufzte er und öffnete sie kopfschüttelnd wieder.
    »Das wird schon wieder«, sagte er, obwohl seinem Ton die rechte Überzeugung fehlte. »Ich habe gerade mit Eurem Major Fettes besprochen, was Ihr an Verpflegung und Unterkünften braucht; er lässt Euch wissen, dass für alles gesorgt ist.«
    »Oh. Danke, Mr. Dawes.« Obwohl ihn der Gouverneur mit seiner Flucht ein wenig aus der Fassung gebracht hatte, empfand er Zufriedenheit. Er war selbst jahrelang Major gewesen; es war erstaunlich, wie angenehm das Bewusstsein war, dass jetzt jemand anderem die unmittelbare Versorgung der Männer oblag. Alles, was er zu tun hatte, war, Befehle zu erteilen.
    Da dem so war, erteilte er einen, obwohl er als höfliche Anfrage formuliert war, und Mr. Dawes führte ihn unverzüglich eine Treppe hoch und durch die Korridore des weitschweifigen Hauses zu einer kleinen Schreibstube neben den Amtsräumen des Gouverneurs. Hier standen ihm Karten zur Verfügung.
    Er konnte sofort feststellen, dass Mr. Warren recht gehabt hatte, sowohl was die Schwierigkeit des Terrains als auch den Kurs der Übergriffe betraf. Eine der Karten war mit den Namen der Plantagen markiert, und kleine Notizen markierten die Stellen, wo es Überfälle der Aufrührer gegeben hatte. Es war zwar alles andere als eine gerade Linie, doch man konnte dennoch deutlich eine Richtung erkennen.
    Das Zimmer war warm, und er konnte spüren, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. Dennoch berührte ein kalter Finger sacht seinen Nacken, als er den Namen Twelvetrees auf der Karte sah.
    »Wem gehört diese Plantage?«, fragte er in neutralem Ton und zeigte auf die Karte.
    »Was?« Dawes war in eine Art träumerische Trance gefallen, während er aus dem Fenster auf das Grün des Dschungels schaute. Doch jetzt blinzelte er, schob sich die Brille hoch und beugte sich über die Karte. »Oh, Twelvetrees. Sie gehört Philip Twelvetrees – ein junger Mann, hat die Plantage erst kürzlich von einem Vetter geerbt. Bei einem Duell umgekommen, heißt es – der

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