Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
Er wies mit einer Geste auf Greys Glas, doch Grey schüttelte den Kopf.
»Sie befinden sich auf dem Vormarsch nach King’s Town«, sagte Warren. »Sie haben ein Ziel, man kann es sehen. Eine Plantage nach der anderen in einer geraden Linie, die den Berg herunterkommt.« Er seufzte. »Ich sollte nicht ›gerade‹ sagen. Auf dieser verdammten Insel ist gar nichts gerade, angefangen mit der Landschaft.«
Das stimmte; Grey hatte die leuchtend grünen Gipfel bestaunt, die sich in der Inselmitte erhoben, ein wilder Hintergrund für das erstaunlich blaue Wasser und das weiße Sandufer.
»Die Leute sind außer sich vor Angst«, fuhr Warren fort. Er schien jetzt die Beherrschung wiederzufinden, obwohl in seinem Gesicht schon wieder der Schweiß glänzte und seine Hand an der Karaffe zitterte. Grey begriff mit leisem Erschrecken, dass auch der Gouverneur außer sich vor Angst war. »Ich habe täglich Kaufleute – und ihre Frauen – in meinen Amtsräumen, die mich anflehen, die Schutz vor den Schwarzen verlangen.«
»Nun, Ihr könnt ihnen versichern, dass ihnen dieser Schutz gewährt werden wird«, sagte Grey, um einen beruhigenden Ton bemüht. Er hatte ein halbes Bataillon dabei – dreihundert Infanteristen und eine Artilleriekompanie, die mit kleinen Kanonen ausgerüstet war. Genug, um King’s Town nötigenfalls zu verteidigen. Doch sein Auftrag von Lord North lautete nicht nur, die Kaufleute von King’s Town und Spanish Town zu verteidigen und den Handel zu sichern – und auch nicht, den größeren Zuckerplantagen Schutz zu gewähren. Er war damit beauftragt, die Sklavenrebellion vollständig zu beenden, die Rädelsführer zusammenzutreiben und der Gewalt ein für alle Mal ein Ende zu setzen.
Die Schlange auf dem Tisch bewegte sich plötzlich und entrollte sich mit einer trägen Bewegung. Grey erschrak leicht, denn inzwischen hatte er zu glauben begonnen, sie sei eine dekorative Skulptur. Sie war wunderhübsch, etwas über zwanzig Zentimeter lang und von einer schönen blassgelben Farbe mit braunen Markierungen und schwach irisierenden Schuppen, die leuchteten wie ein guter Rheinwein.
»Doch es ist noch weiter ausgeufert«, fuhr Warren jetzt fort. »Es sind nicht länger nur Brände und Verwüstungen. Inzwischen gab es auch einen Mord.«
Das riss Grey mit einem Ruck aus seinen Betrachtungen.
»Wer ist denn ermordet worden?«, wollte er wissen.
»Ein Pflanzer namens Abernathy. Wurde letzte Woche in seinem eigenen Haus ermordet. Die Kehle durchgeschnitten.«
»Wurde das Haus in Brand gesteckt?«
»Nein. Die Aufrührer haben zwar das Haus geplündert, wurden aber von Abernathys Sklaven vertrieben, bevor sie es anzünden konnten. Seine Frau hat überlebt, indem sie sich in einer Quelle hinter dem Haus versteckte, die mit Ried bewachsen ist.«
»Ich verstehe.« Er konnte sich die Szene nur allzu gut vorstellen. »Wo ist diese Plantage?«
»Etwa zehn Meilen außerhalb von King’s Town. Sie heißt Rose Hall. Warum?« Warrens blutunterlaufene Augen richteten sich auf Grey, und er begriff, dass das Glas Wein, zu dem ihn der Gouverneur eingeladen hatte, nicht das erste an diesem Tag gewesen war. Wahrscheinlich auch nicht das fünfte.
War der Mann ein Säufer?, fragte er sich. Oder war es nur der Druck der gegenwärtigen Lage, der ihn so unverhohlen zur Flasche greifen ließ? Er betrachtete den Gouverneur verstohlen; der Mann war vielleicht Ende dreißig, und obwohl er im Moment eindeutig betrunken war, legte er keine Symptome eines Gewohnheitstrinkers an den Tag. Er war gut gebaut und attraktiv, nicht aufgedunsen, kein Schwabbelbauch, der seine Seidenweste spannte, keine geplatzten Äderchen auf Wangen oder Nase …
»Habt Ihr eine Karte des Distrikts?« Es konnte Warren doch nicht entgangen sein, dass es, falls sich die Aufrührer tatsächlich in gerader Linie auf King’s Town zurannten, doch möglich sein musste, ihr nächstes Ziel vorauszusagen und sie mit einigen Kompanien bewaffneter Infanterie zu erwarten?
Warren leerte das Glas und saß einen Moment leise keuchend da, den Blick auf das Tischtuch geheftet, dann schien er sich zusammenzureißen.
»Karte«, wiederholte er. »Ja, natürlich. Dawes … mein Sekretär … er wird – er sucht sie Euch heraus.«
Grey fiel eine Bewegung ins Auge. Zu seiner großen Überraschung hatte sich die kleine Schlange, die sich eine Weile umgesehen und in alle Richtungen gezüngelt hatte, jetzt in Bewegung gesetzt und kam anscheinend zielgerichtet, wenn auch in
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