Zeit der Träume
formuliert, und wenn er darauf so mürrisch reagieren wollte, so war das sein Problem.
In den nächsten zwanzig Minuten untersuchte sie jeden Zentimeter in dem Zimmer und tröstete sich selber damit, dass er überreagiert hatte.
Sie redeten eine Stunde lang nicht miteinander, und für zwei Menschen, die sich nach kurzem im selben Raum aufhielten, gelang es ihnen hervorragend, jeden Kontakt zu vermeiden.
Als sie beide im Ausstellungsbereich ankamen, hatten sie einen stetigen Rhythmus entwickelt, redeten jedoch nach wie vor nicht miteinander.
Es war eine öde, frustrierende Arbeit, jedes einzelne Gemälde, jede Skulptur und jedes Kunstobjekt zu überprüfen. Jede einzelne Treppenstufe zu untersuchen.
Es kostete Malory Überwindung, in den Lagerraum zu gehen, weil es sowohl schmerzlich als auch aufregend war, auf die neu erworbenen Stücke zu stoßen oder zu entdecken, welche in ihrer Abwesenheit verkauft worden waren und darauf warteten, verpackt und verschickt zu werden.
Früher einmal war sie bei jedem Schritt dabei gewesen und hatte das Recht gehabt, Neues zu kaufen oder einen Verkaufspreis auszuhandeln. In ihrem Herzen hatte die Galerie ihr gehört, und unzählige Male war sie in diesem Lagerraum gewesen. Damals hätte niemand ihre Anwesenheit in Frage gestellt, und sie hätte sich die Schlüssel nicht heimlich geben lassen müssen.
Sie hätte sich nicht so schuldbewusst fühlen müssen, hätte nicht diese tiefe Trauer empfunden. Trauer darüber, dass dieser Teil ihres Lebens vorbei war. Vielleicht war es ja ein Fehler gewesen, das Angebot zurückzukehren, abzulehnen. Sie konnte jedoch ihre Meinung noch ändern. Sie konnte ihr früheres Leben wieder aufnehmen und das wiedererlangen, was sie so lange gehabt hatte.
Aber es würde nie wieder das Gleiche werden.
Ihr Leben hatte sich unwiderruflich verändert. Und sie hatte sich nicht die Zeit genommen, über diesen Verlust zu trauern. Das holte sie jetzt nach, mit jedem Stück, das sie anfasste, mit jeder Minute, die sie im Lagerraum verbrachte.
Tausende von Erinnerungen überfluteten sie, Alltagsbegebenheiten, die damals nichts bedeutet hatten und jetzt auf einmal wichtig waren.
Flynn öffnete die Tür. »Wo willst du...« Er brach ab, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihre Augen waren trocken, aber man sah ihr ihre Niedergeschlagenheit an. Sie hielt eine Steinfigur im Arm, als sei sie ein Kind.
»Was ist los?«
»Mir fehlt die Galerie so sehr. Es ist, als ob jemand gestorben sei.« Vorsichtig stellte sie die Skulptur in ein Regal. »Dieses Stück habe ich vor ungefähr vier Monaten erworben. Es ist ein neuer Künstler, noch sehr jung, voller Feuer und Temperament. Er lebt in einer Kleinstadt in Maryland und hatte ein paar lokale Erfolge. Doch bisher hat sich noch keine größere Galerie für ihn interessiert. Es war ein gutes Gefühl, ihm zum Durchbruch zu verhelfen und mir auszumalen, wie es für ihn weiterginge, was wir in der Zukunft gemeinsam machen könnten.«
Sie fuhr mit der Fingerspitze über den Stein. »Irgendjemand hat sie gekauft. Ich hatte nichts damit zu tun, ich kenne noch nicht einmal den Namen auf der Rechnung. Es ist alles nicht mehr meins.«
»Wenn du nicht gewesen wärst, wäre die Figur gar nicht hier und auch nicht verkauft worden.«
»Vielleicht, aber diese Tage sind unwiederbringlich vorbei. Für mich ist hier kein Platz mehr. Es tut mir Leid, dass ich das eben zu dir gesagt habe. Tut mir Leid, dass ich deine Gefühle verletzt habe.«
»Vergiss es.«
»Nein.« Sie holte tief Luft. »Es stimmt ja, dass ich mir Sorgen darüber gemacht habe, wie du letztendlich über die Geschichte berichten wirst. Ich kann nicht behaupten, dass ich dir absolut vertraue. Das widerspricht natürlich der Tatsache, dass ich dich liebe, aber ich kann es nicht erklären. Genauso wenig wie ich erklären kann, dass ich weiß, dass der Schlüssel nicht hier ist. Ich wusste es schon in dem Augenblick, als Tod mir die Schlüssel gab. Trotzdem muss ich weitersuchen, zu Ende bringen, was ich angefangen habe. Aber der Schlüssel ist nicht hier, Flynn. Für mich ist ab sofort hier nichts mehr.«
16
Flynn schloss die Tür seines Büros, ein Zeichen dafür, dass er schrieb und nicht gestört werden wollte. Jedenfalls war dies das Prinzip. Allerdings achtete niemand darauf.
Anfangs ließ er die Idee für die Kolumne einfach fließen, wie eine Art Gedankenfluss, den er dann in einem zweiten Durchgang in eine strengere Form brachte.
Was definierte einen Künstler?
Weitere Kostenlose Bücher