Zeit des Lavendels (German Edition)
geblieben. Es mögen nur wenige Sekunden gewesen sein, in denen ich diesen Blick sah. Sofort danach schlugen die beiden wieder ihre Augen nieder. In diesen Sekunden wurde eine neue Katharina geboren. Eine Rasende, deren Hass jeden vernünftigen Gedanken erstickte. Ich war wie ein Tier. Und wie ein Tier zog ich mich in unser Haus zurück. Ich legte mich auf den Strohsack, den ich mit Konz teilte, und zog die rauen Decken bis über mein Gesicht.
Mein kleiner Sohn stand weinend daneben. Er hatte die Veränderung an mir bemerkt, doch er konnte sie sich nicht erklären. Sie machte ihm Angst, ebenso, wie sie tief hinten in meinem Kopf auch mir Angst machte. Aber ich, die ich sonst bei jedem kleinsten Wimmern zu ihm geeilt war, die ihn bei jeder seiner kleinen Bubentränen tröstend in den Arm genommen hatte, ich kümmerte mich nicht um ihn. Ich lag zusammengekrümmt, die Knie bis unters Kinn gezogen, unter der dunklen Höhle dieser Decken und hoffte zu sterben, das Aufgehen der Sonne nie wieder erleben zu müssen. Irgendwann muss sich mein kleiner Thomas auf den Boden neben das Bett gelegt haben und eingeschlafen sein, seinen kleinen Daumen im Mund, die Tränen der Angst noch immer auf seinen Kinderwangen. So jedenfalls hat uns Konz gefunden.
Von allem, was ich später getan habe, quält mich heute eine Erinnerung am meisten. Was ich mit meiner Veränderung meinem Kind antat, war das Schlimmste. Schlimmer als das, was Thomas Leimer mit mir gemacht hatte. Denn dieser kleine Thomas konnte sich nicht wehren. Ich war alles, was er an Wärme und Schutz hatte auf dieser Welt. Und ich konnte ihm das nicht mehr geben. Nicht nach diesem Tag. Nicht nach diesem Blick. Nicht mehr für eine lange Zeit.
Konz muss ziemlich erschrocken sein, als er uns beide so sah. Er hatte nach der Kirche lange nach mir gesucht und war schließlich nach Hause gekommen, in der Hoffnung, mich dort zu finden. Nach Hause ... Ich hatte kein Zuhause mehr. Am wenigsten in mir selbst. Denn da hatte eine andere die Herrschaft übernommen. Eine andere, die trotzdem ich war.
Vorsichtig stieg mein Mann über meinen Sohn hinweg und zog mir die Decke vom Kopf. Ich krümmte mich nur weiter zusammen, damit er meine Augen und mein Gesicht nicht sehen konnte. Erst musste ich wieder Macht über den bösen Geist in mir gewinnen. Zumindest so viel, um ihn nach außen nicht zu verraten. So blieb ich trotz allen Zuredens starr liegen, ohne Konz auch nur eine Antwort auf seine besorgten Fragen zu geben.
Der kleine Thomas war inzwischen wieder aufgewacht. Konz, der meine Liebe zu diesem Kind kannte, versuchte, mich mit seiner Hilfe wieder zum Leben zu bringen. Aber ich hörte die beiden nur wie durch eine dicke Mauer. Eine tiefe und eine kleine, hohe Stimme, die mich nichts angingen. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden, ohne jemandem zu erklären, warum.
Als ob er meine Gedanken gehört hätte, drehte sich Konz um, nahm meinen und seinen Sohn auf den Arm und ging aus dem Zimmer. Ich hatte eine gesegnete halbe Stunde Zeit für mich, um mich wieder halbwegs zufassen, ehe er mit der alten Nele zurückkam. Sie machte ein besorgtes Gesicht, als sie mich untersuchte. Sie versuchte gar nicht erst, mit mir zu sprechen. Sie hatte die Warnung in meinen Augen gesehen.
»Es fehlt ihr nichts«, sagte sie schließlich und wandte sich zu Konz um. »Zumindest nichts Ernstes. Katharina ist einfach völlig erschöpft. Sie hat zu viel gearbeitet. Ich werde ihr jetzt einen beruhigenden Tee zubereiten, und dann lasst Ihr sie am besten einige Tage im Bett. Der kleine Thomas und der große Konz müssen halt einmal alleine fertig werden. Ihr werdet sehen, dann geht es ihr schnell wieder besser. Aber haltet Euch an meine Anweisungen«, fügte sie mit einem scharfen Blick auf mich hinzu. »Denn sonst könntet Ihr sie verlieren.«
Konz machte ein erschrockenes Gesicht. Ich wusste genau, dass Nele nicht glaubte, ich würde sterben. Sie hatte erkannt, dass meine Seele starb. Ihre Worte waren gleichzeitig eine Warnung an mich, unausgesprochen, aber trotzdem völlig klar: Reiß dich zusammen. Du hast hier zwei, für die du die Verantwortung trägst.
Es gibt Menschen, die haben ein Gefühl dafür, wonach andere sich sehnen. Sie spüren das Echo dieser Wünsche in sich und geben sie als Antworten zurück. Bei ihnen fühlt sich jeder verstanden, erkannt und aufgehoben. Das ist eine ganz besondere Gabe. Ich glaube, Jesus Christus hatte sie. Und Thomas Lei-mer. Doch er nutzte dieses besondere Geschenk
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