Zeit des Lavendels (German Edition)
auf Gottes Weg, der es nicht ertragen kann, wie irregeleitete Pfarrer und Ablassprediger, eitle Adelige und die Mächtigen die Sehnsüchte der Menschen für ihre Zwecke nutzen. Ach, Katharina, wenn du nur hättest dabei sein können. Es war wunderbar. Nie habe ich die Menschen im Münster so ergriffen erlebt. Thomas Leimer hatte die Antwort auf alle ihre Fragen, gab ihnen Mut, gab ihnen Hoffnung, dass jeder, jeder Einzelne, den Weg in diesem Jammertal meistern kann, wenn er nur will. Wenn er an das Gute glaubt und es lebt. Dieser Mann ist von Gott gesandt, um die Menschen aufzurütteln. Und das ist nötig. Gerade in dieser Zeit, in der der alte Glaube die zarten Keime des Neuen zu zertreten droht, die mit so viel Blut gedüngt wurden. In der einmal mehr das Schwert regiert und nicht Gottes Recht.
Und ich, liebste Freundin Katharina, diese schwache Frau, die ich bin, ich darf ihm dabei helfen. Mit der ganzen Kraft, die ich habe. Was bedeutet angesichts dieser großen Aufgabe noch der Titel >Reichsfürstin<. Wie unwichtig sind da noch die Geschicke einzelner Menschen. Ich will mit ihm gehen, ihm beistehen bei seinem Kampf für das Gute, für eine gerechte Welt. Denn er braucht mich und meine ganze, meine vollkommene Hingabe. Und deshalb, meine Freundin, meine Tochter, meine Schwester, werden Thomas Leimer und ich morgen heiraten.«
Ich lag wie erstarrt. Ihre letzten Worte hatten mir tausend Messer durch die Seele gejagt, die Gedanken schossen so schnell durch meinen Kopf, dass ich keinen einzigen von ihnen festhalten konnte. Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht liefen und meine innere Verzweiflung mich wegzureißen drohte. Doch sie verstand nicht, worum es ging. Wie sollte sie auch. Sie war so hell, so strahlend in ihrer Liebe zu diesem Mann, dass sie das Böse völlig aus ihren Gedanken verbannt hatte, nur das Gute war für sie existent. Hätte ich damals nur gesprochen, ihr von Thomas Leimer und mir erzählt. Wie viel Leid wäre uns allen erspart geblieben. Doch ich konnte nicht. In meinem Inneren hatte nichts Platz außer dem Schmerz. Und als ich wieder zu Verstand kam, da war es zu spät.
»Du musst nicht weinen, kleine Katharina«, sagte sie tröstend. »In meinem Herzen werde ich immer bei dir sein. Auch wenn ich morgen Abend nicht mehr die Äbtissin des Stiftes, sondern nur noch die Frau von Thomas Leimer sein werde. Wir hören sicher voneinander. Und wenn es nur durch die Kunde ist, wie segensreich das Wirken dieses Mannes für unser liebes Land und seine Menschen ist. Zunächst wollen wir zu meiner Schwester Genoveva und ihrem Mann nach Basel gehen. Sie wird uns für eine Weile Unterkunft gewähren, bis wir genau wissen, wie es weitergeht. Ach, Katharina, sei nicht traurig. Freu dich doch mit mir, dass ich endlich meinen Weg gefunden habe, endlich weiß, wozu ich wirklich berufen wurde. Wie wenig konnte ich bisher doch tun. Und wie viel werde ich an seiner Seite tun können. Denk nur an unsere Wibrandis, die Segginger Schultheißtochter, die an der Seite so vieler bedeutender Männer für ihre Überzeugungen gelebt hat. Morgen Abend werden Thomas Leimer und ich die Stadt verlassen. Ich muss dir sicher nicht sagen, dass das heimlich geschehen wird. Außer dir und mir und dem Priester, der uns traut, weiß niemand davon. Deshalb wollte ich dich und deinen Mann bitten, ob ihr unseren Ehebund nicht vor Gott bezeugen könntet. Morgen früh, vor Tagesanbruch noch, wird die Zeremonie in meinem Betzimmer vollzogen. Werdet ihr kommen? Willst du mir diesen Liebesdienst tun?«
Ich konnte nur nicken. Und als sie fort war, als mein Mann und mein Sohn schliefen, da schrieb ich jenen verhängnisvollen Brief. Ich wünschte mir bis heute, Gott hätte die Hand verdorren lassen, die jene Zeilen an Hans Jakob von Schönau, den Großmeier des Stiftes, zu Papier brachten:
Die Äbtissin des Stiftes Seggingen hat sich einem Mann anergeben, ihre Pflichten gegenüber den Gotteshausleuten und gegen die heilige Mutter Kirche verraten. Heute Abend will sie mit ihrem Buhlen nach Basel fliehen. Möge Gott uns helfen.
Ich habe diesen Brief nicht unterschrieben.
Ich erinnere mich noch heute, so viele Jahre später, genau an das Geräusch meiner hölzernen Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Die Mauern der Häuser nahmen es auf, warfen es zurück. Steine und Mauern sprachen mit einer Stimme: »Tu es nicht. Tu es nicht.« Doch der Hass war stärker. Er wallte auf und drückte jede andere Empfindung, jeden klaren
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