Zeit Des Zorns
Eine menstruierende junge Frau musste sich ausziehen und, unter höhnischem Gelächter der Polizisten, ihr Intimpiercing entfernen.
Es gab nur eine Toilette, einen Stehabort. Die Tür wurde nie geschlossen. Man fragte eine Frau, ob sie schwanger sei, und schlug sie. Den Kopf einer anderen Frau drückte man in die Kloschüssel. Alle, die im Saal warteten, sahen, dass die, die von der Toilette zurückkehrten, noch mehr Verletzungen hatten als zuvor. Da fragten viele nicht mehr, ob sie zur Toilette gehen durften. Später schlug man sie, weil sie »stanken«.
Viele Demonstranten wurden nach der Tortur in die Gefängnisse in und um Genua gesperrt.
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Am Samstag, dem 21. Juli, demonstrierten 100 000 Menschen in Genua, mehr als 700 Gruppen hatten zu den Protesten aufgerufen. An diesem Tag war die Stimmung bedrückt, von den Folterungen in der Bolzaneto-Kaserne wussten wohl erst wenige, aber alle vom Massaker in der Schule, und alle kannten Carlo Giulianis Namen. Sie riefen: »Assassini!« – »Mörder!« – und zeigten den »Sicherheits«-Kräften ihre Fäuste. Zwei Banken brannten. Tränengas. Barrikaden. Räumpanzer. Panik. Mannschaftswagen jagten Demonstranten auf das Meer zu. Einige flohen über hohe Metallzäune zum Meeresufer. Lebensgefährliche Situationen. Einer sprang von einer drei Meter hohen Mauer und blieb bewusstlos auf dem Pflaster liegen.
Am letzten Tag des G8-Gipfels meldete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) eine ganz andere Bilanz als die der offiziellen Verlautbarungen: ein Toter, mehr als 500 Verletzte und 200 Festnahmen. Wir können sicher sein, das es viel mehr Verletzte unter den Demonstranten gab, die sich aber, um von der Polizei nicht in den Krankenhäuserngefangen genommen zu werden, nicht meldeten und ihre Verletzungen anderswo oder überhaupt nicht versorgen ließen.
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»Jeder hat das Gefühl, dass die G8 weitermachen muss«, sagte Berlusconi. Der britische Ministerpräsident Tony Blair, guter Kumpel von George W. Bush, ergänzte: Es sei »sehr gefährlich, wenn Führer, demokratisch gewählte Führer, sich außerstande fühlen, zusammenzukommen und Themen zu diskutieren, die für unsere Völker von vitaler Bedeutung sind«. 269 Gefährlich für wen?
Gianfranco Fini, der frühere Generalsekretär der neofaschistischen Partei MSI, 2001 stellvertretender Ministerpräsident und heute Vorsitzender der italienischen Abgeordnetenkammer, hielt sich, so berichteten Zeitungen, während der Ereignisse im Hauptquartier der Polizei auf. Er musste später nie offenlegen, welche Anweisungen er dort gab. Es gab in der Folgezeit Gerüchte, dass der Polizei für alle Taten im Voraus Straffreiheit versprochen worden war. Fini sagte, dass es richtig gewesen war, die Polizei zu bewaffnen: »Die Demonstranten haben es darauf angelegt, dass Blut fließt. Sie haben bekommen, was sie wollten.« Noch 1994 hatte Fini den faschistischen Ex-Diktator Benito Mussolini als »größten Staatsmann des Jahrhunderts« bezeichnet, wovon er später, national-konservativ verkleidet, offiziell nichts mehr wissen will. 270
Fini ist eines der vielen Beispiele dafür, dass es nicht ausreicht, die Größe offen rechtsextremer und neofaschistischer Parteien zu messen, wenn man wirklich herausfinden will, wie weit Europa inzwischen nach rechts gerückt ist. Das deutlich größere Problem ist die dramatische Rechtsentwicklung großer bürgerlicher Parteien.
Zynisch war das Abschlusskommuniqué des Gipfels: »Wir sind fest entschlossen, die Globalisierung so zu gestalten, dass sie allen Bürgern zugute kommt, insbesondere den Armen in der Welt.« Carlo Giulianis Tod wurde ebenso pflichtgemäß wie kühl bedauert. Die gewaltbereiten Demonstranten, so Bundeskanzler Gerhard Schröder, seien »von Justiz und Polizei mit aller Härte zu verfolgen«.
Ein paar Tage nach dem Gipfel wurden 32 Deutsche in einem Bus über den österreichischen Grenzübergang beim Brenner ausItalien abgeschoben, unter ihnen der Politikwissenschaftler Jens H. aus Berlin, der zuerst Opfer des Überfalls in der Diaz-Schule geworden und dann viele Stunden in der Kaserne gequält worden war. Es dauerte Monate, bis er das Erlebte verarbeiten konnte. Er sagte Jahre später: »Wahrscheinlich habe ich das alles nur überstanden, weil ich mich, wie die anderen auch, nicht als Opfer gesehen habe. Ich habe immer wieder versucht, Erklärungen für das Ganze zu finden, und ich bin sicher, dass die Polizisten nur deshalb so ausgerastet sind, weil sie uns 300 000
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